In dein Herz geschrieben
Tante Doll. Du weißt schon, die auf dem Foto.« Annie Laurie wartete, bis Cassandra nickte. »Zu meinem Geburtstag feiern wir immer eine große Party. Dieses Jahr findet sie am 20. August statt. Eigentlich habe ich am 17. Geburtstag, aber wir feiern immer am Samstag.«
»Ich war noch nie in Ocracoke«, sagte Cassandra.
»Man kommt nur mit der Fähre meines Daddys hin. Die Leute oben im Norden fahren von Nag’s Head herunter, aber das dauert ewig, und die Fähre von Hatteras muss man trotzdem nehmen. Im Sommer sind jede Menge Leute da, deshalb haben alle viel zu tun. Einige meiner Onkel vermieten Boote wie Daddy, und eine meiner Tanten hat einen Souvenirladen, wo die Leute irgendwelchen Krimskrams kaufen können. Sie verkauft auch meine Schildkrötenengel. Im Sommer verdienen wir unser meistes Geld, weil im Winter ziemlich tote Hose herrscht.«
Cassandra lächelte. »Unser Geld.« Wie erwachsen sich das anhörte.
»Du kannst gern kommen, wenn du Lust hast«, fuhr Annie Laurie fort. »Zu meiner Geburtstagsparty.«
»Das könnte ich tun«, meinte Cassandra, unsicher, ob es ihr ernst damit war. Sie war bereits an dem Punkt angelangt, an dem sie auf die Uhr sah, ob Hector bald an den Pier kam, um Annie Laurie zu sehen, und wurde nervös, wenn er nicht auftauchte. So gern sie nach Ocracoke fahren würde, fürchtete sie, dass eine Familienfeier die Dinge nur komplizieren würde. »Gehst du hin, May?«
»Nein, Schatz«, antwortete May. »Wir feiern hier eine kleine Party. Ich, Walton, Doris, Chester und Skeeter.« Sie stand auf und trug die Kartoffeln zur Spüle.
»Doris fährt nicht nach Ocracoke?«
»Im Sommer nicht«, erklärte Annie Laurie. »Zu viele Touristen. Sie vermietet unser Haus.«
»Es ist dasselbe wie bei den Herbsttouristen«, sagte May über ihre Schulter hinweg. »Die fallen auch jedes Jahr wie die Heuschrecken in den Bergen ein, um zu sehen, wie sich die Blätter verfärben. Natürlich gehöre ich inzwischen auch zu ihnen.«
»Tja, in diesem Herbst kannst du mit Walton zu mir kommen«,
sagte Cassandra, ehe ihr einfiel, dass sie ja gar kein Haus mehr besaß. »Oder zu Ruth Ann«, fügte sie hinzu. Gütiger Himmel, am besten, sie ließ sich ganz schnell etwas einfallen, sonst landete sie am Ende noch selbst bei ihrer Schwester. Ach was, darüber würde sie sich jetzt noch keine Gedanken machen. Sie stand auf und trat neben May, um ihr beim Kochen zu helfen.
21
Das hatte sie nun von ihrer Unabhängigkeit, von ihrer Entschlossenheit, immer alles allein zu machen. Sie saß im Sand fest, ohne eine Menschenseele weit und breit, die ihr hätte helfen können. Als sie sich zur Seite lehnte und einen Fuß anhob, ließ er sich herausziehen. Gott sei Dank, kein Treibsand. Doch bei der Panik, die sie erfasst hatte, als sie vorhin auf diesen unschuldigen feuchten Fleck getreten und bis zum Knie eingesunken war, hätte es ebenso gut welcher sein können. Die Dose Diät-Pepsi war ihr aus der Hand geflogen, und sie hatte wild mit den Armen gerudert, um das Gleichgewicht zu halten. Vor ihrem geistigen Auge war das Szenario aufgeflammt, wie sie feststeckte, während langsam die Flut einsetzte und über sie hinwegspülte. Wie die Muschelsucher morgen früh ihre arme Leiche fänden, die wie eine Seeanemone oder ein anderes Meeresgewächs in der Brandung hin und her schwankte, als wäre sie ein Baum im Wind.
Cassandra brach in Lachen aus und dachte an Nell . Das war dieser Film von einer jungen Frau, die ganz allein im Wald aufgewachsen war und die »Baum im Wind« nicht so aussprechen konnte, dass die anderen sie verstanden. Es fühlte sich gut an zu lachen und führte ihr vor Augen, wie albern sie sich anstellte. Noch immer mit hämmerndem Herzen ließ sie sich vorwärts auf die Hände fallen, legte ihr freies Knie auf den festgebackenen Sand und zog das andere nach. Einen Moment lang verharrte sie in dieser Position und hoffte nur, dass niemand vorbeikam und sie so sah. Aber selbst wenn - die Sonne war bereits untergegangen, und im düsteren Licht würde jeder, der zufällig vorbeikam, glauben, sie suche nach Muscheln.
Die Coladose, längst ausgelaufen, lag ein Stück entfernt. Sie fragte sich, ob dies wohl der erste Schluck Limonade für die Dreiecksmuscheln und die Einsiedlerkrebse wäre, die sich im Sand rumtrieben. Sie bohrte mit den Fingern im Sand und grub, bis sie einen zappelnden Krebs gefunden hatte. Sie setzte sich auf die Fersen und betrachtete den kleinen Kerl, der mit voller Kraft versuchte,
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