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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Worte. Koenig drückte sich so präzise und logisch aus, dass ich das Gefühl hatte, mir besonders viel Mühe geben zu müssen, um es ihm gleichzutun. »Irgendwohin, wo sie weiter weg von den Menschen sind. Aber das … könnte uns unter Umständen in eine noch schlimmere Situation bringen, wenn wir das Gebiet nicht kennen. Und ich weiß auch nicht, wie das Rudel sich an einem neuen Ort verhält, ohne die bekannten Grenzen. Ich weiß nicht, ob ich Becks Haus verkaufen soll oder ein Stück Land kaufen oder wie auch immer. Wir haben nicht genug Geld, um uns ein ganzes Territorium für sie leisten zu können. Wölfe brauchen viel Platz, sie laufen meilenweit. Also bleibt die Möglichkeit, dass es wieder Ärger gibt, immer bestehen.«
    Koenig trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad, seine Augen waren schmal. Ein langer Moment des Schweigens verging. Ich war froh darüber. Ich konnte ihn gut gebrauchen. Die Folgen meines Geständnisses gegenüber Koenig waren unabsehbar.
    »Ich spreche jetzt einfach mal aus, was mir so im Kopf herumschwirrt«, begann Koenig schließlich. »Ich besitze ein Grundstück, ein paar Stunden nördlich von hier, direkt an den Boundary Waters. Es hat meinem Vater gehört, ich habe es gerade erst geerbt.«
    »Ich … weiß nicht …«
    »Eine Halbinsel«, unterbrach mich Koenig. »Ziemlich groß. War früher mal eine Ferienanlage, aber mittlerweile ist alles geschlossen. Familienstreitigkeiten. Es ist eingezäunt. Nicht der stabilste Zaun, an ein paar Stellen bloß ein bisschen Maschendraht zwischen den Bäumen, aber den könnte man ja verstärken.«
    Er blickte im selben Moment zu mir rüber, in dem ich ihn ansah, und ich wusste, dass wir beide dasselbe dachten: Das könnte es sein.
    »Ich glaube nur nicht, dass eine Halbinsel, egal, wie groß sie ist, für die Wölfe ausreicht. Wir müssten sie füttern«, überlegte ich.
    »Dann füttert sie eben«, erwiderte Koenig.
    »Aber können wir sicher sein, dass auch niemand mehr zum Campen dorthin kommt?«
    »In dem Gebiet nebenan wurde früher Bergbau betrieben«, antwortete Koenig. »Die Bergbaugesellschaft ist zwar seit siebenundsechzig nicht mehr aktiv, aber das Grundstück wollen sie trotzdem nicht abgeben. Es hat schon seine Gründe, warum sich die Ferienanlage nicht gehalten hat.«
    Ich kaute auf der Unterlippe. Es war schwer, an so etwas wie Hoffnung zu glauben. »Bleibt immer noch das Problem, dass wir sie erst mal irgendwie dorthin schaffen müssen.«
    »Und zwar unauffällig«, riet Koenig. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Tom Culpeper eine Umsiedelung der Wölfe als angemessene Alternative zu ihrer Ausrottung akzeptieren würde.«
    »Und schnell«, ergänzte ich. Ich dachte daran, wie lange Cole schon erfolglos versuchte, Wölfe zu fangen, und wie lange es wohl dauern würde, bis wir über zwanzig von ihnen erwischten, und wie wir sie dann an einen Ort transportieren sollten, der Stunden von hier entfernt war.
    Koenig schwieg. Schließlich sagte er: »Vielleicht ist es ja keine gute Idee. Aber immerhin eine Möglichkeit.«
    Eine Möglichkeit – das bedeutete nicht mehr als eine eventuell geeignete Vorgehensweise und nicht einmal darin war ich mir sicher. Doch was blieb uns anderes übrig?

KAPITEL 40
GRACE
    Der nicht enden wollende Tag endete schließlich doch, als Sam mit einem Pizzakarton in der Hand und einem unsicheren Lächeln im Gesicht nach Hause kam. Beim Essen berichtete Sam mir, was Koenig gesagt hatte. Wir saßen im Schneidersitz auf dem Boden in seinem Zimmer, im Schein der Schreibtischlampe und der Lichterkette, die Pizza in ihrem Karton zwischen uns. Die Lampe stand direkt unter der Dachschräge und so, wie sich das Licht an der Wand brach, ließ es den ganzen Raum wie eine warme Höhle wirken. Der CD-Player neben Sams Bett lief ganz leise, eine rauchige Stimme sang mit Klavierbegleitung.
    Sam beschrieb, was passiert war, und machte nach jedem Ereignis eine kleine, wischende Handbewegung über den Boden, als müsste er unbewusst erst das letzte aus dem Weg räumen, bevor er mir vom nächsten erzählte. Um uns herrschte das pure Chaos, ich fühlte mich vollkommen haltlos und trotzdem konnte ich nur daran denken, wie gern ich ihn in diesem dämmrigen gelben Licht ansah. Er wirkte nicht mehr so weich wie damals, als wir uns kennengelernt hatten, nicht mehr so jung, aber die Kanten seines Gesichts, seine raschen Gesten, die Art, wie er nachdenklich die Unterlippe einsog, bevor er weiterredete – in all das war ich

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