In deinen Augen
den Kopf in Richtung Schulter. »Bin unterwegs mit einem Passagier. Melde mich wieder, wenn ich einsatzbereit bin.«
»Zehn-vier«, kam zurück.
Er wartete einen Augenblick und sagte dann, immer noch ohne mich anzusehen: »Du sagst mir jetzt am besten die Wahrheit, Sam, wir haben nämlich keine Zeit mehr, um den heißen Brei herumzureden. Sag es mir jetzt, und zwar das, was wirklich los ist, nicht das, was du Heifort erzählt hast. Wo ist Geoffrey Beck?«
Die Reifen surrten laut auf dem Asphalt. Inzwischen hatten wir Mercy Falls weit hinter uns gelassen. Bäume flogen an uns vorbei und ich erinnerte mich an den Tag, als ich zum Anglergeschäft gefahren war, um Grace abzuholen. Es schien eine Million Jahre her zu sein.
Wie sollte ich ihm trauen? Wie sollte er gewappnet sein für die Wahrheit – und selbst wenn er es war, gab es immer noch unsere goldene Regel: Wir erzählten niemandem von uns. Besonders nicht einem Vertreter des Gesetzes, der gerade mit im Zimmer gewesen war, als ich der Entführung und des Mordes beschuldigt wurde.
»Ich weiß nicht«, murmelte ich. Kaum hörbar über den Straßenlärm.
Koenig presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. »Ich war dabei, als die erste Wolfsjagd stattfand, Sam. Das war nicht legal und ich bereue es. Die ganze Stadt ist damals förmlich erstickt an Jack Culpepers Tod. Ich war dabei, als sie sie durch den Wald getrieben haben, bis runter zum See. An diesem Abend habe ich einen Wolf gesehen und das werde ich nie, nie mehr vergessen. Und jetzt wollen sie diese Wölfe aus dem Wald jagen und jeden einzelnen aus der Luft erschießen, Sam – ich habe die offiziellen Papiere gesehen, es wird auf jeden Fall passieren. Und deshalb frage ich dich jetzt noch einmal und du wirst mir die Wahrheit sagen, denn ohne mich haben du und die Wölfe keine Chance mehr. Sag es mir, Sam. Wo ist Geoffrey Beck?«
Ich schloss die Augen.
Hinter meinen Lidern sah ich Olivias Leiche. Und Tom Culpepers Gesicht.
»Er ist im Boundary Wood.«
Koenig stieß einen langen, zischenden Atemzug zwischen den Zähnen hervor.
»Und Grace Brisbane auch«, sagte er. »Stimmt’s?«
Ich öffnete die Augen nicht.
»Und du«, fuhr Koenig fort. »Du warst auch dort. Sag mir, dass ich verrückt bin. Sag mir, dass ich falschliege. Sag mir, dass ich mich getäuscht habe, als ich damals an diesem Abend einen Wolf mit Geoffrey Becks Augen gesehen habe.«
Jetzt machte ich die Augen wieder auf, ich musste sein Gesicht sehen. Er starrte durch die Windschutzscheibe, die Brauen zusammengezogen. Seine Unsicherheit ließ ihn jünger wirken, die Uniform weniger einschüchternd.
»Sie haben sich nicht getäuscht.«
»Er hat keinen Krebs.«
Ich schüttelte den Kopf. Koenig wandte nicht den Kopf, aber er nickte, ein winziges Nicken, als wäre es nur für ihn selbst bestimmt.
»Es gibt keine Spur im Fall Grace Brisbane, weil sie nicht verschwunden ist, sondern weil sie ein –« Koenig hielt inne. Er konnte es nicht aussprechen.
Ich begriff, wie viel ich von diesem einen Moment abhängig machte. Davon, ob er den Satz beendete oder nicht. Ob er die Wahrheit packte, wie Isabel, oder ob er sie von sich wegschob oder sie verzerrte, damit sie in irgendeine Religion oder zu einem weniger verrückten Weltbild passte, so wie meine Eltern es getan hatten.
Ich sah ihn weiter an.
»– Wolf ist.« Koenig hielt den Blick weiterhin auf die Straße gerichtet, aber seine Hände krampften sich um das Lenkrad. »Wir können sie und Beck nicht finden, weil sie Wölfe sind.«
»Ja.«
Koenig schüttelte den Kopf. »Mein Vater hat meinen Geschwistern und mir immer Geschichten von Wölfen erzählt. Er hat erzählt, er hätte auf dem College einen Freund gehabt, der ein Werwolf war, und wir haben ihn dafür ausgelacht. Wir waren uns nie ganz sicher, ob das nur eine Geschichte war oder die Wahrheit.«
»Es ist die Wahrheit.« Mein Herz klopfte, als unser Geheimnis dort zwischen uns in der Luft hing. Vor dem Hintergrund seines Verdachts ging ich noch einmal jedes Gespräch durch, das ich je mit Koenig geführt hatte. Ich versuchte zu ergründen, ob das meine Ansichten über ihn änderte. Doch das tat es nicht.
»Aber warum – ich fasse es nicht, dass ich diese Frage stelle, aber warum bleiben sie Wölfe, wenn das Rudel kurz vor der Ausrottung steht?«
»Das kann man sich nicht aussuchen. Hängt von der Temperatur ab, Wolf im Winter, Mensch im Sommer. Jedes Jahr wird die Spanne kürzer und irgendwann bleibt man für
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