In deinen Augen
derjenige war, der sich vor dem Wetter verstecken musste.
Ich fühlte mich so viel älter als sie alle. Viele waren in der Abschlussklasse, ein paar von ihnen mussten also in meinem Alter sein, aber das schien mir unfassbar. Ich konnte mir mich nicht unter ihnen vorstellen, wie ich, den Rucksack über die Schulter geworfen, auf den Bus wartete oder zu meinem Auto ging. Es war, als wäre ich niemals so jung gewesen. Gab es irgendwo ein Paralleluniversum mit einem Sam Roth, der nie die Wölfe getroffen, nie seine Eltern verloren, nie Duluth verlassen hatte? Wie würde dieser Sam wohl aussehen, der ganz normal zur Schule und danach aufs College ging, am Weihnachtsmorgen aufwachte, bei der Abschlussfeier seine Mutter umarmte? Hätte dieser narbenlose Sam eine Gitarre, eine Freundin, ein schönes Leben?
Ich fühlte mich wie ein Voyeur. Ich wollte hier weg.
Aber da war sie. In einem gerade geschnittenen braunen Kleid mit lila gestreifter Strumpfhose marschierte Rachel allein auf die andere Seite des Parkplatzes zu. Ihr Gang hatte etwas Grimmiges. Ich kurbelte das Fenster herunter. Das hier ließ sich nun wirklich nicht machen, ohne dass ich mir vorkam wie eine Figur aus einem Kriminalroman. Der Junge rief sie aus dem Auto zu sich. Sie ging auf ihn zu; sie wusste, dass die Polizei ihn verdächtigte, aber er war doch immer so nett gewesen …
»Rachel!«, rief ich.
Rachels Augen weiteten sich und es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihr Gesicht wieder genügend unter Kontrolle hatte, um einen etwas freundlicheren Blick aufzusetzen. Sie blieb etwa drei Meter vor meinem Fahrerfenster stehen, die Füße dicht zusammenstehend, die Hände um die Riemen ihres Rucksacks gelegt.
»Hi«, sagte sie. Sie blickte argwöhnisch, oder traurig.
»Kann ich mit dir reden?«
Rachel sah kurz zurück zur Schule, dann wieder zu mir. »Klar«, sagte sie. Aber näher kam sie nicht. Diese Distanziertheit tat weh. Und außerdem bedeutete sie, dass ich alles, was ich ihr zu sagen hatte, über drei Meter Parkplatz hinweg schreien musste.
»Würde es dir was ausmachen, ein bisschen, äh, näher zu kommen?«, bat ich.
Rachel zuckte mit den Schultern, kam jedoch nicht näher.
Ich ließ den Motor laufen, stieg aus und schlug die Tür hinter mir zu. Rachel bewegte sich nicht, als ich auf sie zukam, aber ihre Brauen senkten sich kaum merklich.
»Wie geht es dir?«, fragte ich leise.
Rachel sah mich an, ihre Zähne gruben sich in ihre Unterlippe. Sie wirkte so furchtbar traurig, dass es mir schwerfiel, Grace’ Entscheidung herzukommen weiter für falsch zu halten.
»Das mit Olivia tut mir so leid«, sagte ich.
»Mir auch«, sagte Rachel. Es klang bemüht tapfer. »John kommt nicht gut damit klar.«
Es dauerte einen Moment, bis mir wieder einfiel, dass John Olivias Bruder war. »Rachel, ich bin wegen Grace hier.«
»Was ist mit Grace?« Sie klang zurückhaltend. Ich wünschte, sie würde mir trauen, aber dazu hatte sie wahrscheinlich keinen Grund.
Ich verzog das Gesicht und sah zu, wie die Schüler sich in die Busse drängten. Das Ganze wirkte wie ein Werbespot für eine Schule: strahlend blauer Himmel, leuchtend grüne Blätter, augenschmerzerregend gelbe Busse. Und auch Rachel passte perfekt ins Bild; diese gestreifte Strumpfhose sah aus, als müsste man sie extra aus einem Katalog bestellen. Rachel war Grace’ Freundin. Und Grace war überzeugt davon, dass sie ein Geheimnis für sich behalten konnte. Nicht bloß irgendein Geheimnis. Unser Geheimnis. Obwohl ich Grace’ Urteil Glauben schenkte, fiel es mir nun doch erstaunlich schwer, die Wahrheit auszusprechen. »Zuerst muss ich wissen, ob ich dir vertrauen kann, Rachel.«
»Ich hab ein paar ziemlich schlimme Sachen über dich gehört, Sam«, entgegnete Rachel.
Ich seufzte. »Ich weiß. Ich hab sie auch gehört. Ich hoffe, du weißt, dass ich Grace nie etwas antun würde, aber … du musst mir nicht unbedingt trauen, Rachel. Ich will nur wissen, ob du, wenn es um was Wichtiges geht, was wirklich Wichtiges, ein Geheimnis für dich behalten kannst. Sei ehrlich.«
Ich sah ihr an, dass sie ihren Schutzschild gern hätte sinken lassen, immerhin.
»Kann ich«, sagte sie.
Ich biss mir auf die Unterlippe und schloss die Augen, nur für eine Sekunde.
»Ich glaube nicht, dass du sie getötet hast«, fuhr sie fort, vollkommen sachlich, als würde sie sagen, sie glaube nicht, dass es heute Abend regnen würde, weil keine Wolken zu sehen waren. »Wenn dir das hilft.«
Ich öffnete die Augen.
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