In deinen Augen
Es half. »Okay. Es ist so – und das hört sich jetzt ziemlich verrückt an … Grace ist am Leben, sie ist immer noch hier in Mercy Falls und es geht ihr gut.«
Rachel beugte sich zu mir vor. »Und du hast sie gefesselt und bei dir im Keller eingesperrt?«
Das Schlimme an der Sache war, dass das ja sogar irgendwie stimmte. »Sehr witzig, Rachel. Ich halte sie bestimmt nicht gegen ihren Willen bei mir fest. Sie versteckt sich und ist noch nicht so weit rauszukommen. Die Situation ist schwer zu –«
»Oh Gott, du hast sie geschwängert«, stieß Rachel hervor. Aufgeregt warf sie die Hände in die Luft. »Ich hab’s gewusst. Ich hab’s gewusst.«
»Rachel«, sagte ich. »Rach. Rachel. «
Sie redete immer noch. »– so oft darüber geredet, aber schaltet sie vielleicht mal ihr Hirn ein? Nein. Natürlich –«
»Rachel«, unterbrach ich. »Sie ist nicht schwanger.«
Sie musterte mich. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt hatte die Unterhaltung uns beide schon ziemlich erschöpft. »Okay. Was dann?«
»Tja, wahrscheinlich wirst du es mir nicht glauben. Ich weiß gar nicht so richtig, wie ich es dir sagen soll. Vielleicht solltest du es besser von Grace selber hören.«
»Sam«, sagte Rachel. »Wir hatten doch alle Sexualkunde in der Schule.«
»Äh, nein, Rachel. Wirklich. Jedenfalls hat sie mich gebeten, dir zu sagen ›Brad mit der brutal breiten Brust‹. Keine Ahnung, was das heißen soll, aber sie meinte, du wüsstest dann, dass sie es wirklich ist.«
Ich konnte sehen, wie diese Worte in ihr arbeiteten und sie überlegte, mit welchen unlauteren Methoden ich darangekommen sein könnte. Skeptisch fragte sie: »Warum erzählt sie mir das dann nicht alles selbst?«
»Weil du nicht zum Auto kommen wolltest!«, rief ich. »Sie kann nicht aussteigen und ich schon. Schließlich wird sie immer noch vermisst, falls du dich erinnerst. Wenn du tatsächlich gekommen wärst, als ich dich gerufen hab, hätte sie dir vom Rücksitz zuwinken können wie geplant.«
Als sie immer noch zögerte, rieb ich mir verzweifelt mit den Händen übers Gesicht. »Hör zu, Rachel, geh rüber und sieh selbst nach. Ich bleibe hier stehen. Dann hab ich gar keine Gelegenheit, dir mit einer Bierflasche den Schädel einzuschlagen und dich in den Kofferraum zu schubsen. Fühlst du dich damit wohler?«
»Wenn du noch ein Stück weiter weggehst, vielleicht«, entgegnete Rachel. »Tut mir leid, Sam, aber das hab ich alles schon mal im Fernsehen gesehen. Ich weiß, wie so was läuft.«
Ich presste mir zwei Finger auf die Nasenwurzel. »Pass auf. Ruf bei mir auf dem Handy an. Es liegt im Auto. Grace ist auch im Auto. Sie wird rangehen und dann kannst du selbst mit ihr reden. Dafür musst du noch nicht mal in die Nähe gehen.«
Rachel zog ihr Handy aus der Seitentasche ihres Rucksacks. »Wie ist deine Nummer?«
Ich sagte es ihr und sie hackte die Zahlen in die Tastatur. »Es klingelt«, sagte sie.
Ich deutete auf den VW. Das Klingeln war durch die geschlossenen Türen vage zu hören.
»Da geht keiner ran«, sagte Rachel vorwurfsvoll. Gerade als sie es ausgesprochen hatte, wurde das Beifahrerfenster runtergekurbelt und Grace spähte hinaus.
»Mein Gott«, zischte sie, »wirklich extrem unauffällig, wie ihr da steht. Steigt ihr jetzt mal langsam ein, oder was?«
Rachels Augen wurden kreisrund.
Ich hob die Hände zu beiden Seiten meines Kopfes, wie um mich zu ergeben. »Und, glaubst du mir jetzt?«
»Sagst du mir auch, warum sie undercover ist?«, fragte Rachel zurück.
Ich deutete auf Grace. »Ich glaube, das erzählt sie dir besser selbst.«
KAPITEL 44
GRACE
Ich war davon ausgegangen, dass meine schiere Präsenz ausreichte, damit Rachel Sam glaubte. Die Tatsache, dass ich lebte und atmete, sprach doch immerhin ziemlich eindeutig für Sams Unschuld, aber als es dann so weit war, war Rachel trotzdem noch unsicher. Es dauerte einige Minuten, bis wir sie ins Auto gelockt hatten, selbst nachdem sie mich darin gesehen hatte.
»Nur weil du Grace da drin hast, heißt das noch lange nicht, dass alles okay ist«, protestierte Rachel und spähte misstrauisch durch die offene Autotür. »Woher weiß ich denn, dass du sie in deinem Keller nicht mit psychoaktiven Pilzen fütterst und jetzt dasselbe mit mir vorhast?«
Sam blinzelte in die warme Sonne und warf einen Blick zurück zum Schulgebäude. Wahrscheinlich dachte er in diesem Moment dasselbe wie ich: dass so ziemlich jeder in Mercy Falls das Schlimmste von ihm erwartete und dass es
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