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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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angewendet hat, macht es das nicht weniger zu einem Angriff.«
    Einerseits wusste ich, dass er recht hatte, aber andererseits war da der Beck, den ich kannte, der Beck, der mich zu dem gemacht hatte, was ich war. Wenn Grace mich für einen netten, einen großzügigen Menschen hielt, dann lag es nur daran, dass ich das von Beck gelernt hatte. Wenn er ein Monster war, hätte ich dann nicht auch zu einem kleinen Monster werden müssen, nach seinem Bilde? All diese Jahre hatte ich nun schon gewusst, wie ich zum Rudel gekommen war. Das Auto, das langsam vorbeifuhr, die Wölfe, der Tod von Sam Roth, Sohn einer mittelständischen Familie aus Duluth, dessen Mutter bei der Post und dessen Vater in einem Büro arbeiteten und nichts fabrizierten, was für einen Siebenjährigen nach Arbeit aussah. Jetzt, da ich erwachsen war, kam mir der Wolfsangriff nicht mehr wie ein Unfall vor. Und jetzt, da ich erwachsen war, wusste ich ja auch, dass Beck dahintersteckte. Dass er ihn in die Wege geleitet hatte – in die Wege leiten, das klang so geplant, so zielstrebig, es ließ sich schwer abmildern.
    »Hat er sonst noch irgendetwas mit dir gemacht, Sam?«, fragte Koenig.
    Ein paar sehr lange Sekunden begriff ich gar nicht, was er meinte. Dann ruckte mein Kopf nach oben. »Nein!«
    Koenig sah mich nur betrübt an. In diesem Moment hasste ich ihn dafür, dass er mir Beck wegnahm, aber Beck hasste ich noch mehr, weil er sich so einfach wegnehmen ließ. Ich vermisste die Zeiten, als die Dinge noch richtig oder falsch gewesen waren und nichts dazwischen.
    »Hören Sie auf«, sagte ich. »Hören Sie einfach auf. Bitte.«
    Grace schaltete sich sanft ein. »Beck ist jetzt ein Wolf. Ich denke, es dürfte sehr schwer werden, ihn zu belangen, und selbst wenn Sie es versuchen wollten, glaube ich, dass er seine Strafe bereits bekommen hat.«
    »Tut mir leid.« Koenig hob die Hände, als zielte ich mit einer Waffe auf ihn. »So ein Polizistenhirn lässt sich nicht abschalten. Ihr habt ja recht. Ich wollte nur – ach, spielt keine Rolle. Es ist nur nicht leicht aus dem Kopf zu kriegen, wenn man einmal anfängt, darüber nachzudenken. Deine Geschichte. Die Geschichte des Rudels. Wollt ihr mit in die Hütte kommen? Ich werde kurz mal reingehen. Sicherstellen, dass da drin nichts rumliegt, was irgendjemanden aus meiner Familie dazu verlocken könnte, noch mal zurückzukommen.«
    »Ich gehe lieber erst mal eine Runde«, sagte ich. Ich fühlte mich fast schwerelos vor Erleichterung darüber, dass Koenig wirklich so zu sein schien, wie ich ihn eingeschätzt hatte. Alles an diesem Plan kam mir so zerbrechlich vor. »Wenn das in Ordnung ist.«
    Koenig nickte knapp, sein Gesicht noch immer schuldbewusst. Er drückte die Klinke herunter und die Tür öffnete sich widerstandslos, dann ging er rein, ohne sich noch einmal nach uns umzusehen.
    Als er im Haus verschwunden war, machte ich mich auf den Weg um das Gebäude herum und Grace folgte mir, nachdem sie sich eine Zecke vom Hosenbein gepflückt und sie mit dem Fingernagel zerquetscht hatte. Ich hatte keine konkrete Vorstellung davon, wo genau ich hinwollte, einfach weg, weiter in die Wildnis, einfach mehr. Wahrscheinlich hatte ich vage vor, runter zum See zu gehen. Ein Pfad aus Holzplanken führte uns ungefähr dreißig Meter von der Hütte weg, zurück ins Dickicht der Bäume, bevor diese Farnen und Dornengestrüpp wichen. Ich lauschte auf die Vögel und das Geräusch unserer Schritte im Unterholz. Die Nachmittagssonne tauchte alles in grüngoldenes Licht. Ich fühlte mich plötzlich sehr ruhig und klein und andächtig.
    »Sam, das könnte funktionieren«, sagte Grace.
    Ich sah sie nicht an. Ich dachte an die vielen Meilen Straße zwischen diesem Ort und zu Hause. Becks Haus kam mir schon jetzt vor wie eine wehmütige Erinnerung. »Die Hütte ist unheimlich.«
    »Die kann man doch sauber machen«, erwiderte Grace. »Es könnte funktionieren.«
    »Ich weiß«, sagte ich. »Ich weiß, dass es das könnte.«
    Vor uns erhob sich eine Felszunge; die schmalen Steine waren länger als mein VW und flach wie Dachschindeln. Grace zögerte nur einen Moment und kletterte dann an der Seite hinauf. Ich kraxelte hinter ihr her und dann standen wir da, weiter oben als vorher, aber immer noch nicht hoch genug, um die Spitzen der größten Bäume zu sehen. Es gab nichts als dieses leise Summen, das man in großer Höhe in sich spürt, dieses Gefühl, dass der Boden sich leicht unter einem bewegt, wie um uns zu sagen, dass wir

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