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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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dem Himmel jetzt näher waren als ihm. So riesige Kiefern hatte ich in Mercy Falls noch nie gesehen. Eine davon wuchs direkt am Rand der Felszunge und Grace ließ die Finger über den Stamm gleiten, das Gesicht voller Staunen. »Ist das schön.« Die Hand auf der Rinde, legte sie den Kopf weit in den Nacken, um die Spitze zu sehen. Sie sah bezaubernd aus in diesem Moment, ihre verblüfft geöffneten Lippen, die Linie ihres Rückens und ihrer Beine, wie offensichtlich sie sich auf diesem riesigen Felshaufen mitten im Nirgendwo zu Hause fühlte.
    »Du machst es einem leicht, dich zu lieben«, sagte ich.
    Grace nahm die Finger von dem Baumstamm und drehte sich zu mir um. Den Kopf schief gelegt, als hätte ich ihr ein Rätsel gestellt, das zu lösen ihr schwerfiel, fragte sie: »Warum guckst du so traurig?«
    Ich schob die Hände in die Taschen und blickte vom Felsen hinunter. Da unten gab es mindestens ein Dutzend verschiedene Grüntöne, wenn man nur richtig hinsah. Als Wolf würde man keinen einzigen davon erkennen. »Das hier ist der richtige Ort. Aber ich werde derjenige sein müssen, der es macht, Grace. Cole will es so. Wir können nicht alle Wölfe einfangen und wir haben nicht genug Leute, um sie aus dem Wald zu treiben. Unsere einzige Chance ist es, sie hier raus zu führen, und das muss ein Wolf mit einem einigermaßen menschlichen Orientierungssinn machen. Ich wollte, dass Cole es macht. Ich hab viel drüber nachgedacht: Wenn die Welt fair und logisch wäre, dann würde er es machen. Er ist gern ein Wolf und außerdem sind das seine Experimente, sein Spielzeug. Wenn die Welt fair wäre, müsste er die Wölfe herführen. Aber das ist sie nicht. Er sagt, er kann keinen Gedanken festhalten, wenn er ein Wolf ist. Er sagt, er würde es machen, aber er kann es nicht.«
    Ich hörte Grace ausatmen, langsam und vorsichtig, aber sie sagte nichts.
    »Du verwandelst dich doch nicht mal mehr«, wandte sie schließlich ein.
    Die Antwort darauf wusste ich. Mit absoluter Sicherheit. »Cole kann dafür sorgen, dass sich das ändert.«
    Grace zog meine Hand aus meiner Tasche und legte meine gekrümmten Finger in ihre Handfläche. Ich spürte ihren Puls an meinem Daumen, leicht und gleichmäßig.
    »Ich hatte schon angefangen, die hier als selbstverständlich anzusehen«, sagte ich und bewegte die Finger auf ihrer Haut. »Ich hatte schon angefangen zu denken, ich müsste es nie wieder tun. Ich war schon so weit, mich mit dem Menschen anzufreunden, der ich bin.« Ich wollte ihr sagen, wie ungern ich mich wieder verwandeln wollte, wie ungern ich auch nur darüber nachdachte. Wie ich inzwischen endlich in der Gegenwart von mir dachte, von meinem Leben in Bewegung anstatt als Konserve. Aber ich wusste nicht, ob ich mich auf meine Stimme verlassen konnte. Und es laut auszusprechen, würde das, was getan werden musste, auch nicht einfacher machen. Also schwieg ich, mal wieder.
    »Ach, Sam«, seufzte sie. Sie schlang die Arme um meinen Hals und ließ mich mein Gesicht an ihre Wange legen. Ihre Finger strichen durch mein Haar. Ich hörte, wie sie schluckte. »Wenn wir …«
    Aber sie sprach nicht zu Ende. Sie drückte mich nur so fest an sich, dass mein Atem an ihrem Körper vorbeischlüpfen musste, um zu entweichen. Ich küsste sie aufs Schlüsselbein, während ihre Haarspitzen mein Gesicht kitzelten. Sie seufzte.
    Warum fühlte sich nur alles so an wie ein Abschied?
    Der Wald um uns war voller Geräusche: singende Vögel, plätscherndes Wasser, Wind, der sch-sch-sch in den Bäumen flüsterte; dies war das Geräusch seines Atems gewesen, bevor wir kamen, und würde es bleiben, lange, nachdem wir gegangen waren. Diese Welt, diese Natur war aus einem Stoff gemacht, der aus geheimen, unausgesprochenen Sorgen bestand, und die unseren waren nur eine der winzigen Maschen am Saum.
    »Sam.« Koenig stand am Fuß der Felszunge. Grace und ich traten auseinander. Ich hatte ein Haar von ihr im Mund und zog es heraus. »Dein Handy hat geklingelt, aber es ist ausgegangen, bevor irgendjemand eine Nachricht hinterlassen konnte. Hier draußen ist der Empfang zu schlecht, da kommt keiner durch. Es war deine Festnetznummer.«
    Cole.
    »Wir sollten zurückfahren«, sagte Grace, die sich bereits ebenso souverän an den Abstieg gemacht hatte, wie sie hier hochgestiegen war. Neben Koenig blieb sie stehen und beide betrachteten den Felsen und den Wald, bis ich bei ihnen angelangt war.
    Koenig deutete kaum merklich mit dem Kinn auf den Wald um uns. »Und, was

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