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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Tag schwer beschäftigt in seinem Arbeitszimmer vorzustellen, wenn ich mir denn überhaupt irgendwas vorstellte.
    So kam und ging der Chinesentag, Jahr für Jahr. Aufstehen im Morgengrauen und gleich aus dem Haus. Als ich älter wurde, fielen mir immer mehr Details auf, die ich nicht mitbekommen hatte, als ich noch kleiner war. Wenn wir gingen, nahmen Ulrik und Paul zum Beispiel den Telefonhörer ab und schlossen hinter uns ab, als wäre niemand mehr im Haus.
    Mit dreizehn, vierzehn schließlich schlief ich nicht mehr augenblicklich ein, wenn wir nach Hause kamen. Normalerweise tat ich trotzdem so, als wäre ich müde, um mich schnellstens mit meinem neuen Buch oder irgendwelchen anderen Schätzen, die ich an jedem Chinesentag abstaubte, in mein Zimmer zurückziehen zu können. Ich schlich mich nur noch einmal raus, um auf die Toilette zu gehen, bevor ich endgültig das Licht ausmachte. In einem Jahr aber, als ich mein Zimmer verließ, hörte ich … etwas. Ich weiß immer noch nicht, was genau das Geräusch an sich gehabt hatte, dass ich deswegen im Flur stehen geblieben war. Irgendetwas Seltsames, Ungewohntes.
    Also tappte ich zum ersten Mal leise am Badezimmer vorbei auf Becks Tür zu, die einen Spalt offen stand. Ich zögerte, lauschte, warf einen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass mich niemand beobachtete. Und dann trat ich noch einen lautlosen Schritt vor, sodass ich in Becks Zimmer gucken konnte.
    Das kleine Lämpchen auf seinem Nachttisch tauchte alles in schwaches Licht. Mitten auf dem Boden stand ein Teller mit einem unberührten Sandwich und braun gewordenen Apfelschnitzen und daneben eine volle Kaffeetasse mit einem hässlich braunen Ring am Rand, wo sich die Milch abgesetzt hatte. Ein Stückchen weiter, am Fußende des Betts, mit dem Rücken zu mir, saß Beck auf dem Boden. Seine Haltung hatte etwas Schockierendes, etwas, das ich nie wieder vergessen sollte. Er hatte die Knie an die Brust gezogen wie ein kleiner Junge und die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die ihn hinunter zu seinem Körper drückten, wie um ihn vor einem starken Sturm zu schützen.
    Ich verstand gar nichts. Dann hörte ich wieder dieses leise Geräusch und ich sah, wie seine Schultern zitterten. Nein, nicht nur seine Schultern, sein ganzer Körper, mehr ein Beben als ein Zittern, das abgehackte, stumme Schluchzen von jemandem, der schon eine Weile dabei ist und seine Kräfte für die lange Strecke schont, die noch vor ihm liegt.
    Ich erinnere mich an nichts als meine vollkommene Überraschung, dass Beck dieses fremde Wesen in sich beherbergte und dass ich es nie gewusst, nie geahnt hatte. Später würde ich erfahren, dass dies nicht Becks einziges Geheimnis war, nur vielleicht das bestgehütete.
    Ich ließ Beck mit seinem heimlichen Kummer allein und ging nach unten, wo Ulrik im Wohnzimmer saß und sich lustlos durch die Fernsehkanäle zappte.
    »Was ist mit ihm los?«, fragte ich nur.
    Und so erfuhr ich von Becks Frau und wie sie vor neun Jahren an diesem Tag im Mai gestorben war. Wenige Monate, bevor ich gebissen worden war. Ich hatte keine Verbindung gesehen, oder wenn doch, hatte ich sie nicht für wichtig gehalten, hatte gedacht, sie spiele keine Rolle.
    Aber jetzt spielte sie eine Rolle.

KAPITEL 54
SAM
    Als wir in die Auffahrt einbogen, klingelte mein Handy erneut. Koenig schaltete den Pick-up noch nicht mal auf Parken, er stellte nur den Fuß aufs Bremspedal. Während wir ausstiegen, sah er erst auf die Uhr, dann in den Rückspiegel.
    »Kommen Sie noch mit rein?«, lud Grace ihn ein und beugte sich ins Auto. Auf die Idee war ich gar nicht gekommen.
    »Nein«, sagte Koenig. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass das, was da drin vor sich geht – ich würde lieber alles glaubhaft abstreiten können. Ich habe dich heute nicht gesehen. Du redest ja später noch mit deinen Eltern, ist das korrekt?«
    Grace nickte. »Mache ich. Danke noch mal. Für alles.«
    »Ja«, schloss ich mich an. Auch wenn das eigentlich nicht reichte. Das Telefon klingelte noch immer. Es war wieder Cole. Ich hatte Koenig noch so viel mehr zu sagen, aber … Beck. Beck war da drin.
    »Ruft mich später an, wenn ihr euch entschieden habt«, sagte Koenig. »Und Sam, nun geh schon ans Telefon.«
    Grace schlug die Autotür zu und klopfte zum Abschied zweimal gegen die Seite des Pick-ups.
    »Da bin ich«, meldete ich mich.
    »Hat ja lange genug gedauert«, erwiderte Cole. »Seid ihr zu Fuß zurückgekommen, oder was?«
    »Was?«, fragte ich. Die

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