In deinen Augen
Hausfassade emporwuchs, berührte ihren Kopf. Sie stand knöcheltief im Unkraut, das in der Ritze zwischen dem Betonweg und dem Fundament des Hauses gesprossen war. Im Vergleich dazu sah sie sehr ordentlich aus, in ihren sauberen Jeans und einer meiner Windjacken, das blonde Haar auf den Schultern ausgebreitet. »Ich find’s immer noch ziemlich schön«, sagte Grace, was mich sie noch einmal von Neuem ins Herz schließen ließ.
Etwas Ähnliches schien sie damit auch bei Koenig bewirkt zu haben. Sobald er begriffen hatte, dass sie es ernst meinte, erwiderte er: »Ja, eigentlich schon. Aber es gibt keinen Strom mehr. Schätze mal, man könnte ihn wieder anstellen lassen, aber dann kommen auch regelmäßig die Ableser hier raus.«
Grace, das Gesicht immer noch an die Scheibe gepresst, sagte: »Wow, das klingt ja wie der Anfang von einem Horrorfilm. Aber das da hinten ist doch ein großer Kamin, oder? Man könnte es auch ohne Strom bewohnbar machen, wenn man es richtig anpackt.« Ich stellte mich neben sie und linste ebenfalls durch das Fenster. Mein Blick fiel auf einen düsteren, großen Raum, der tatsächlich von einem riesigen offenen Kamin dominiert wurde. Alles wirkte grau und verlassen: die Teppiche, deren Farben der Staub verschleierte, eine vertrocknete Topfpflanze, ein ausgestopfter Tierkopf, den die Zeit unkenntlich gemacht hatte. Es war eine verlassene Hotellobby, ein Schnappschuss aus der Titanic auf dem Meeresgrund. Plötzlich kam mir eine winzige Kate viel leichter zu handhaben vor.
»Kann ich mir den Rest des Geländes mal ansehen?«, fragte ich und trat vom Fenster zurück. Dann zog ich Grace sanft von der Kletterpflanze weg – es war Giftefeu.
»Nur zu«, erwiderte Koenig. Dann, nach einer Pause, sagte er: »Sam?« Es klang sehr zögerlich, was mich vermuten ließ, dass mir wohl nicht gefallen würde, was er als Nächstes sagte.
»Ja, Sir?«, antwortete ich. Das Sir rutschte mir einfach so heraus, bevor ich darüber nachdenken konnte, und auch Grace sah noch nicht mal in meine Richtung, sondern weiter unverwandt Koenig an. Es lag einfach an der Art, wie er meinen Namen ausgesprochen hatte.
»Geoffrey Beck ist dein rechtmäßiger Adoptivvater, richtig?«
»Ja«, antwortete ich. Mein Herz zuckte in meiner Brust bei dieser Frage, nicht weil die Antwort gelogen gewesen wäre, sondern weil ich nicht begriff, warum er sie mir stellte. Vielleicht hatte er ja doch seine Meinung geändert und wollte uns jetzt nicht mehr helfen. Ich bemühte mich, möglichst unbekümmert zu klingen. »Warum fragen Sie?«
»Ich versuche zu entscheiden, ob ich das, was er dir angetan hat, als Verbrechen betrachte«, erklärte Koenig.
Auch wenn wir uns fernab von allem befanden, hier in Nirgendwohausen, Minnesota, wusste ich, was er meinte: Mich, wie ich vor einem ganz gewöhnlichen Haus in eine Schneewehe gedrückt wurde, heißen Wolfsatem im Gesicht. Jetzt pochte mein Herz wie verrückt. Vielleicht hatte er uns ja nie helfen wollen. Vielleicht hatte dieser Ausflug, unsere gesamten Unterhaltungen bis jetzt, nur dazu gedient, Beck zu belasten. Wie konnte ich wissen, worum es hier wirklich ging? Mein Gesicht fühlte sich heiß an; wahrscheinlich war es naiv von mir gewesen zu denken, dass ein Polizist uns helfen wollte.
Ich hielt Koenigs Blick stand, auch wenn mein Puls wild hämmerte. »Er konnte ja nicht wissen, dass meine Eltern versuchen würden, mich umzubringen.«
»Ja, aber das macht es doch gerade noch schrecklicher«, erwiderte Koenig, so rasch, dass er schon gewusst haben musste, was ich dagegen einwenden würde. »Wenn sie dich nicht umzubringen versucht und sich dadurch selbst ins Aus geschossen hätten, was hätte er dann gemacht? Dich entführt? Hätte er dich ihnen auch weggenommen, wenn sie es ihm nicht so leicht gemacht hätten?«
Grace unterbrach ihn. »Man kann aber niemanden für etwas verurteilen, was er nur vielleicht getan hätte.«
Ich warf ihr einen Blick zu. Ob sie wohl dasselbe dachte wie ich?
Koenig fuhr fort: »Aber er hat Sam von diesen beiden Wölfen angreifen lassen, mit dem Vorsatz, ihm Schaden zuzufügen.«
»Nicht direkt Schaden«, murmelte ich, aber ich sah weg dabei.
Koenigs Stimme klang ernst. »Das, was er dir angetan hat, würde ich durchaus als Schaden bezeichnen. Würdest du das Kind von jemand anderem beißen, Grace?«
Grace verzog das Gesicht.
»Was ist mit dir, Sam? Nein? Nur weil der Großteil der Welt gar nichts von der Waffe weiß, die Geoffrey Beck gegen dich
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