In deinen Augen
Unmögliche zu vollbringen, was auch immer dieses Unmögliche sein mochte, nur um schließlich festzustellen, dass es das Leben mit mir selbst war. Selbstmord wurde zu einem Verfallsdatum, dem Tag, ab dem ich mich endlich nicht mehr bemühen musste.
Ich hatte gedacht, ich wäre zum Sterben nach Minnesota gekommen.
Um Viertel nach zwei nachmittags ging gerade die erste Werbepause in Rick Vilkas’ Sendung zu Ende. Er war ein Musikgott, in dessen Show wir mal live aufgetreten waren und der mich danach gebeten hatte, ein Poster für seine Frau zu signieren, die, wie er behauptete, nur mit ihm schlafen wollte, wenn dabei unser Song Sinking Ship (Going Down) lief. Ich hatte »Bringt das Boot zum Schaukeln!«, unter mein Foto geschrieben und dann meinen Namen. Im Radio kam Rick Vilkas immer rüber wie ein Vertrauter, wie der beste Freund, mit dem man ein Bier trinken geht und der einem irgendwann mit dem Ellbogen in die Rippen stupst und ein Geheimnis verrät.
Auch jetzt, als seine Stimme aus den Lautsprechern in Becks Wohnzimmer drang, klang sie, als verriete sie etwas sehr Intimes. »Jeder, der diese Sendung hört – ach was, jeder, der überhaupt Radio hört –, weiß, dass Cole St. Clair, der Frontmann von NARKOTI-KA und ein verdammt guter Songwriter, jetzt schon seit – wie lange? Fast einem Jahr? Zehn Monaten? Irgendwas um den Dreh – vermisst wird. Jaja, ich weiß, ich weiß! Mein Aufnahmeleiter verdreht gerade die Augen. Sag, was du willst, Buddy, wahrscheinlich war er wirklich total durchgeknallt, aber, Mann, konnte der Junge Songs schreiben.«
Da war er, mein Name im Radio. Das musste im vergangenen Jahr oft so gewesen sein, aber heute hörte ich zum ersten Mal mit. Ich wartete darauf, irgendetwas zu fühlen – dass mich Reue packte, ein schlechtes Gewissen, heftiger Schmerz –, aber da war nichts. NAR-KOTIKA war wie eine Exfreundin, deren Foto nicht mehr die Macht hatte, Gefühle in mir heraufzubeschwören.
Vilkas fuhr fort: »Tja, sieht jedenfalls so aus, als hätten wir Neuigkeiten und als wären wir noch dazu die Ersten, die sie euch überbringen, Leute. Cole St. Clair ist nicht tot. Er wird auch nicht von einem Haufen Fans oder meiner Frau irgendwo gefangen gehalten. Wir haben hier die Aussage seines Agenten, laut der St. Clair ein paar medizinische Probleme hatte, die mit Drogenmissbrauch verbunden waren – na so was aber auch, wärt ihr je auf die Idee gekommen, dass der Sänger von NARKOTIKA was mit illegalen Substanzen am Hut hatte? –, und dass er und sein Bandkollege zur Behandlung (alles streng geheim, natürlich) in eine Entzugsklinik außer Landes gegangen sind. Hier steht, dass er mittlerweile wieder zurück in den Staaten ist, aber darum bittet, in Ruhe gelassen zu werden, während er ›versucht, sich darüber klar zu werden, wie es jetzt weitergeht‹. Da habt ihr’s, Leute. Cole St. Clair. Er lebt. Nein, nein, fangt jetzt nicht an, mir zu danken. Dafür ist später noch genug Zeit. Tja, dann hoffen wir mal alle auf eine Wiedervereinigungstour, was? Meine Frau würde es jedenfalls glücklich machen. Cole, falls du jetzt zuhörst, nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Der Rock ’n’ Roll wird schon auf dich warten.«
Dann spielte Vilkas einen von unseren Songs. Ich schaltete das Radio aus und rieb mir mit der Hand über den Mund. Meine Beine waren ganz verkrampft vom Hocken vor der Anlage.
Noch vor sechs Monaten hätte es für mich nichts Schlimmeres gegeben. Damals gab es nichts, was ich mir mehr wünschte, als für verschwunden oder für tot gehalten zu werden, außer tatsächlich zu verschwinden oder zu sterben.
Hinter mir auf der Couch sagte Isabel: »So, dann bist du jetzt also offiziell wiedergeboren.«
Ich schaltete das Radio wieder ein, um den Rest des Songs mitzuhören. Meine Hand lag offen auf meinem Knie und es war, als hielte ich darin die ganze Welt. Der Tag fühlte sich plötzlich an wie ein Gefängnisausbruch.
»Ja«, antwortete ich. »Sieht ganz so aus.«
KAPITEL 51
SAM
Sobald ich die Halbinsel sah, wusste ich, das war die Lösung. Nicht etwa, weil der Eingang zum Gelände so vielversprechend aussah. Ein Eingangstor aus roh behauenen Baumstämmen, in das die Worte KNIFE LAKE LODGE eingebrannt waren, hieß uns willkommen. Zu beiden Seiten erhob sich ein Palisadenzaun. Koenig kämpfte leise fluchend mit dem Zahlenschloss, bis es uns schließlich Einlass gewährte, und dann zeigte er uns, wie der Palisadenzaun Maschendraht wich, der alle paar Meter an einen
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