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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Verbindung brach ab. Ich klappte seufzend mein Handy zu und gab die Information weiter. Gemeinsam folgten wir Isabels Beschreibung, die uns zu Shelbys Leiche führte. Sie war erstaunlich intakt, mit Ausnahme des Gesichts, das so zerfetzt war, dass ich gar nicht hinsehen konnte. So viel Blut.
    Ich wollte Mitleid für sie empfinden, aber alles, was mir durch den Kopf ging, war: Sie ist schuld, dass Cole tot ist.
    »Jetzt hat sie es endlich hinter sich«, sagte Sam. »Sie ist als Wolf gestorben. Ich schätze, das hätte ihr gefallen.«
    Das Gras um Shelbys Leiche war rot verschmiert und gesprenkelt und befleckt. Ich wusste nicht, wie weit entfernt von hier Cole gestorben war. War das hier auch sein Blut? Sam schluckte und ich wusste, dass er unter die Maske dieses Monsters blickte und dort etwas anderes sah. Ich konnte es nicht.
    Koenig murmelte, er müsse telefonieren, und ging ein Stück weiter, um uns allein zu lassen.
    Ich berührte Sams Hand. Er stand in einer so großen Pfütze Blut, dass es aussah, als wäre er selbst verwundet worden. »Geht es?«
    Er rieb sich über die Arme; es wurde langsam kühler, je tiefer die Sonne sank. »Ich fand es nicht schrecklich, Grace.«
    Er musste nichts weiter erklären. Ich erinnerte mich noch genau an die Freude, die mich durchströmt hatte, als er als Wolf auf mich zugesprungen war, auch wenn ich in jenem Moment nicht seinen Namen gewusst hatte. Ich erinnerte mich, wie wir an der Spitze des Rudels gelaufen waren und Bilder ausgetauscht hatten. Sie alle vertrauten ihm, genau wie ich. Ich sagte leise: »Weil du jetzt besser darin warst.«
    Er schüttelte den Kopf. »Weil ich wusste, dass es nicht für immer sein würde.«
    Ich strich ihm durchs Haar und er neigte den Kopf und küsste mich, lautlos, als wäre es ein Geheimnis. Ich schmiegte mich an seine Brust und so standen wir da und schützten einander vor der Kälte.
    Nach ein paar langen Minuten löste Sam sich von mir und sah zum Wald hinüber. Einen Augenblick dachte ich, er würde lauschen, aber natürlich heulte nun kein Wolf mehr im Boundary Wood.
    Er sagte: »Das ist eins der letzten Gedichte, die Ulrik mich hat auswendig lernen lassen.« Auf Deutsch rezitierte er:
     
    »endlich entschloß sich niemand
    und niemand klopfte
    und niemand sprang auf
    und niemand öffnete
    und da stand niemand
    und niemand trat ein
    und niemand sprach willkommen
    und niemand antwortete: endlich. «
     
    »Was heißt das?«, fragte ich.
    Zuerst dachte ich, Sam würde nicht antworten. Die Augen zusammengekniffen wegen der tief stehenden Sonne sah er zu dem Wald hinüber, in den wir vor einer Ewigkeit entkommen waren, und dann zu dem anderen Wald, in dem wir gelebt hatten, eine Ewigkeit davor. Er war nicht mehr der Mensch, als den ich ihn kennengelernt hatte, blutend vor unserer Hintertür. Jener Sam war schüchtern gewesen, naiv und sanft, verloren in seinen Songs und seinen Worten, und diese Version von ihm würde ich immer lieben. Aber sie war in Ordnung, diese Veränderung. Der andere Sam hätte das hier nicht überlebt. Und die Grace, die ich damals gewesen war, im Übrigen auch nicht.
    Den Blick immer noch auf den Boundary Wood gerichtet, übersetzte Sam das Gedicht für mich.
    Unsere Schatten waren so lang wie Bäume. Es war, als befänden wir uns auf einem anderen Planeten, hier auf diesem kargen Stück Brachland, wo plötzlich flache Pfützen orange und rosa aufleuchteten, in den Farben des Sonnenuntergangs. Ich wusste nicht, wo wir noch nach Coles Leiche suchen sollten. Mit Ausnahme seines Bluts, tröpfchenweise auf Grashalmen und in kleinen Senken zu Lachen zusammengelaufen, fehlte davon jede Spur.
    »Vielleicht hat er sich noch in den Wald geschleppt«, sagte Sam mit ausdrucksloser Stimme. »Sein Instinkt hat ihn bestimmt dazu getrieben, sich zu verstecken, auch wenn er im Sterben lag.«
    Mein Herzschlag beschleunigte sich. »Meinst du –«
    »Hier ist zu viel Blut«, erwiderte Sam. Er wich meinem Blick aus. »Sieh dir das an. Und denk daran, dass meine Selbstheilungskräfte damals noch nicht mal für einen einzelnen Schuss in den Hals gereicht haben. Das kann er nicht überlebt haben. Ich hoffe nur … ich hoffe nur, er hatte keine Angst, als er gestorben ist.«
    Ich sprach nicht aus, was ich dachte: Wir alle hatten Angst gehabt.
    Gemeinsam suchten wir den Waldrand ab, nur um sicherzugehen. Selbst als es dunkel wurde, machten wir weiter, denn uns war beiden klar, dass unser Geruchssinn uns sowieso eine größere Hilfe war als

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