In deinen Augen
konnte spüren, wie er in meinen Gliedern erwachte, wie er meinen Magen zu Knoten wand, wie er mich beschwor, mich in einen Wolf zu verwandeln. Für mich gab es kein College, keine eigene Wohnung, noch nicht mal Norwegen, solange ich mir nicht sicher sein konnte, dass ich ein Mensch bleiben würde.
Ich sah zu, wie Sam sich hinhockte und im Laub auf dem Waldboden herumwühlte. Irgendetwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt, als er mit den Füßen darin gescharrt hatte. »Weißt du noch, dieses Mosaik, bei Isabels Haus?«, fragte ich.
Sam hatte gefunden, wonach er gesucht hatte, ein leuchtend gelbes Blatt, das wie ein Herz geformt war. Er richtete sich wieder auf und zwirbelte es an seinem langen Stiel hin und her. »Ich frage mich, was jetzt wohl damit passiert, wo das Haus leer steht.«
Einen Moment lang schwiegen wir beide und standen einfach bloß da, dicht nebeneinander auf dieser kleinen Lichtung, umgeben von den vertrauten Sinneseindrücken des Boundary Wood. Nirgends rochen die Bäume so wie hier, ihr Duft vermischte sich mit dem von Holzfeuern und der Brise, die vom See herüberwehte. Die Blätter flüsterten, auf eine subtile Art und Weise anders als die Blätter auf der Halbinsel. In diesen Ästen hier, rot belaubt und langsam sterbend in den kalten Nächten, waren Erinnerungen gespeichert, wie andere Bäume sie nicht hatten.
Eines Tages, so dachte ich mir, würde jener andere Wald unser Zuhause sein und dieser hier fremd.
»Bist du sicher, dass du das willst?«, fragte Sam sanft.
Er meinte die Spritze mit dem meningitisinfizierten Blut, die in der Hütte auf mich wartete. Das Beinaheheilmittel, das Sam geholfen und Jack getötet hatte. Wenn Coles Theorien stimmten und ich die Meningitisviren als Wolf verabreicht bekam, würden sie den Werwolf in mir nach und nach bekämpfen und mich für immer zu einem Menschen machen. Wenn Cole unrecht hatte und Sams Überleben nur ein Zufall war, verringerte das meine Chancen dramatisch.
»Ich vertraue Cole«, sagte ich. Mittlerweile strotzte er nur so vor positiver Energie und war weitaus erwachsener als damals, als ich ihn kennengelernt hatte. Sam hatte gesagt, er sei froh, dass Cole seine Superkräfte nun nutzte, um Gutes zu tun statt Böses. Mich freute es zu sehen, wie er die Hütte zu seinem Schloss machte. »Alle seine anderen Theorien waren auch richtig.«
Ein leichtes Kribbeln von Verlust stieg in mir auf, denn an manchen Tagen liebte ich es, ein Wolf zu sein. Ich liebte das Gefühl, den Wald zu kennen, ein Teil von ihm zu sein. Die grenzenlose Freiheit, die damit verbunden war. Doch gleichzeitig, stärker, hasste ich das Vergessen, die Verwirrung, das nicht stillbare Verlangen nach mehr Wissen. So gern ich auch ein Wolf war, Grace war ich lieber.
»Was machst du, während ich weg bin?«, fragte ich.
Ohne zu antworten, griff Sam nach meiner linken Hand. Er legte den Stiel des Blatts um meinen Ringfinger, sodass es aussah wie ein leuchtend gelber Ring. Wir beide bewunderten den Anblick.
»Dich vermissen«, antwortete er. Dann ließ er das Blatt los und es segelte zwischen uns zu Boden. Er sagte nicht, dass er Angst hatte, Cole könnte falschliegen, aber ich wusste, dass es so war.
Ich drehte mich um zum Haus meiner Eltern. Es war durch die Bäume nicht zu sehen, vielleicht im Winter, noch aber war es hinter den Herbstblättern verborgen. Ich schloss die Augen und gestattete mir, ein letztes Mal den Duft dieser Bäume einzuatmen. Der Moment des Abschieds war gekommen.
»Grace?«, sagte Sam und ich öffnete die Augen.
Er streckte mir die Hand hin.
NACHWORT
Es ist ein komisches Gefühl, mich von einer Welt zu verabschieden, in der ich beinahe vier Jahre lang gelebt habe, von einer Buchreihe, die mein Leben komplett verändert hat, aber nun ist es wohl so weit. Ich dachte mir, jetzt, ganz am Ende, wäre vielleicht ein guter Zeitpunkt, ein paar Worte zu den Komponenten meiner Geschichte zu sagen, die außerhalb der Seiten dieser Bücher wirklich existieren.
Erstens: die Wölfe.
Ich habe in der gesamten Reihe versucht, mich so akkurat wie möglich an wirkliche Verhaltensmuster von Wölfen zu halten (obwohl ich niemandem empfehlen würde, einen zu küssen). Lesern, die gern mehr über Wölfe erfahren möchten, kann ich die Dokumentation Living with Wolves als Ausgangspunkt empfehlen. Die Rollen von Ulrik, Paul und Salem sind standardmäßig in jedem echten Wolfsrudel vertreten: der Schlichter, der Alpha- und der Omegawolf. Ich kann nur sagen,
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