Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
Vom Netzwerk:
umgehend aus diesem Loch rausmusste, aber Sam ließ keinen Widerspruch zu. Er kletterte von den Tonnen herunter und ließ sich neben mir ins Wasser plumpsen. Meine Eingeweide hatten sich zu einem kopfgroßen, pulsierenden Knoten verschlungen. Es fühlte sich an, als krallten sich Klauen in mein Zwerchfell und schlichen sich langsam hinauf in meinen Hals.
    »Los«, sagte Sam.
    Meine Kopfhaut prickelte und kribbelte. Sam packte meinen Unterkiefer, so hart, dass seine Fingerspitzen sich schmerzhaft in den Knochen gruben. Er starrte mir in die Augen und ich fühlte, wie der Wolf in mir auf diese Herausforderung zu reagieren begann, auf den stummen Instinkt, der seinem Befehl Macht verlieh. Diesen Sam hier kannte ich nicht.
    »Los, klettern«, kommandierte er. »Raus hier!«
    Wenn er es so sagte, musste ich gehorchen. Ich kletterte auf die Tonnen, mit bebenden Muskeln und Fingern, die schließlich den Rand der Grube ertasteten. Mit jeder Sekunde außerhalb des Wassers fühlte ich mich wieder mehr wie ein Mensch und weniger wie ein Wolf, auch wenn ich meinen eigenen Geruch, den Gestank der Beinaheverwandlung riechen konnte. Er erfasste mich in Wellen, jedes Mal wenn ich den Kopf wandte. Nach einer kurzen Pause, um wieder Herr meiner Sinne zu werden, schob ich mich auf dem Bauch aus der Grube. Das sah bestimmt alles andere als sexy aus, aber ich war trotzdem ziemlich beeindruckt von mir. Ein paar Schritte weiter lag Grace auf der Seite, reglos, aber atmend.
    Unter mir kletterte Sam unsicher auf die erste Tonne und musste einen langen Moment abwarten, um sein Gleichgewicht zu finden.
    »Ich … ich hab sicher nur eine Sekunde, bis das hier zusammenbricht«, sagte Sam. »Kannst du –?«
    »Hab dich«, erwiderte ich.
    Irrtum; er hatte weniger als eine Sekunde. Er hatte es gerade zusammengekauert auf die zweite Tonne geschafft, als der Turm unter ihm zu kippen begann. Er streckte die Hand aus und im selben Moment packte ich seinen Arm. Die Tonnen fielen zurück ins Wasser, das Spritzgeräusch gedämpfter, als ich erwartet hätte, als Sam auch seinen anderen Arm hochschwang, damit ich ihn greifen konnte. Ich stemmte mich in den durchweichten Boden am Rand des Lochs und schob mich rückwärts. Gut, dass Sam so ein schlaksiges Kerlchen mit reisigdürren Gliedmaßen war, ansonsten wären wir alle beide wieder unten in der Grube gelandet.
    Dann war es vorbei. Völlig außer Atem, auf die Ellbogen gestützt, lag ich da. Kein Zentimeter meines Körpers, der nicht von dem schleimigen Matsch aus der Grube bedeckt war. Sam saß neben Grace, ballte die Fäuste und öffnete sie wieder und sah hinunter auf die kleinen Lehmklümpchen, die sich darin bildeten. Die Wölfin lag bewegungslos neben ihm, ihre Atemzüge gingen schnell und ruckartig.
    »Du hättest nicht runterkommen müssen«, sagte Sam.
    »Doch, hätte ich«, erwiderte ich.
    Ich sah auf und bemerkte, dass sein Blick bereits auf mir lag. In der Dunkelheit des Waldes wirkten seine Augen sehr hell. Wolfsaugen, kein Zweifel. Ich dachte daran, wie er meinen Kiefer gepackt und mir befohlen hatte zu klettern, wie er an meinen Wolfsinstinkt appelliert hatte, als nichts anderes mehr ging. Das letzte Mal, dass mir jemand so eindringlich ins Gesicht gestarrt hatte, mir befohlen hatte, zuzuhören und mich zu konzentrieren, war bei meiner ersten Verwandlung gewesen. Und die Stimme die von Geoffrey Beck.
    Sam streckte die Hand aus und berührte Grace’ Flanke; ich sah, wie seine Finger die Rippen unter dem Fell entlangfuhren. »Es gibt ein deutsches Gedicht«, sagte er, »in dem heißt es: Wie lange braucht man jeden Tag, bis man sich kennt. « Immer noch betastete er die Rippen der Wölfin, die Brauen gerunzelt, bis sie leicht, etwas nervös den Kopf hob. Sam legte die Hände in den Schoß. »Ich war dir gegenüber nicht fair«, sagte er dann.
    Sam wollte sagen, dass mein früheres Verhalten keine Rolle mehr spielte, aber das tat es doch, irgendwie. »Heb dir deine Krautgedichte für Grace auf«, sagte ich nach einer Pause. »Nachher steckst du mich noch an mit deinem Spinnerkram.«
    »Ich mein’s ernst«, beharrte Sam.
    Ohne ihn anzusehen, entgegnete ich: »Ich auch. Selbst jetzt, wo du geheilt bist, bist du immer noch absolut anormal.«
    Sam lachte nicht. »Nimm die Entschuldigung einfach an, Cole, dann erwähne ich es nie wieder.«
    »Bitte schön«, sagte ich, als ich aufstand, und warf ihm das Handtuch zu. »Entschuldigung angenommen. Und zu deiner Ehrenrettung: Ich hatte auch keine

Weitere Kostenlose Bücher