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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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ich mir alle Mühe gab, diese Tatsache zu verdrängen. Es war, als würde ich ihn nicht richtig vermissen, wenn ich meine Erinnerungen daran zuließ, wie sehr ich ihn manchmal gehasst hatte. Stattdessen dachte ich daran, wie er grinsend und von oben bis unten verdreckt in der Einfahrt stand, obwohl mir das mittlerweile eher vorkam wie eine Erinnerung an die Erinnerung seines Lächelns und nicht an das Lächeln selbst. Wenn ich zu genau darüber nachdachte, fühlte ich mich schwerelos, haltlos.
    Die Sängerin beendete ihren Vortrag und erntete höflichen Applaus, dann drehte sie unserem Tisch den Rücken zu und stieg auf die kleine Bühne an der Seite des Restaurants, wo sie sich flüsternd mit einer Frau in einem ebenso erniedrigenden Kostüm beriet. Mein Vater ergriff die Gelegenheit und klopfte mit seinem Löffel an sein Glas.
    »Ein Toast, für diejenigen unter uns, die heute Abend etwas trinken«, verkündete er. Er war nicht richtig aufgestanden, sondern hatte sich nur halb erhoben. »Auf Marshall, der daran geglaubt hat, dass wir das hier schaffen können. Und auf Jack, der heute Abend nicht bei uns sein kann«, er hielt inne und fügte dann hinzu, »aber, wenn er es wäre, garantiert um ein eigenes Glas Wein betteln würde.«
    Ich fand, es war ein beschissener Toast, auch wenn er nichts als die Wahrheit enthielt, aber ich ließ trotzdem zu, dass Dolly und die Sturmfrisur neben mir ihre Gläser gegen mein Wasserglas stießen. Dem Jungen gegenüber schenkte ich ein verächtliches Grinsen und zog mein Glas zurück, bevor er mit mir anstoßen konnte. Den Krümel würde ich später aus meinem Oberteil fischen.
    Am Kopfende des Tischs saß Marshall und seine Stimme hatte etwas Durchdringendes, das der meines Vaters fehlte. Er hatte eine von diesen volltönenden Politikerstimmen, mit der sich besonders gut Dinge wie Steuerminderungen für die Mittelschicht und Vielen Dank für Ihre Spende und Schatz, würdest du mir den Pullover mit der Ente drauf raussuchen? sagen ließen.
    Nun dröhnte er im Plauderton: »Wusstet ihr, dass ihr bei euch die gefährlichsten Wölfe von ganz Nordamerika habt?« Dann lächelte er breit, zufrieden, diese Information mit uns geteilt zu haben. Er hatte seine Krawatte gelockert, wie um zu zeigen, dass er hier unter Freunden war und nicht bei der Arbeit. »Bis das Rudel von Mercy Falls aktiv wurde, gab es in Nordamerika nur zwei bestätigte Wolfsangriffe mit tödlichem Ausgang. Mehr nicht. Auf Menschen natürlich. Drüben im Westen ist aber einiges an Vieh gerissen worden, darum haben sie in Idaho ja auch diese Zweihundertzwanzig-Wölfe-Quote in Kraft gesetzt.«
    »So viele Wölfe durften die Jäger schießen?«, hakte Dolly nach.
    »So isses«, antwortete Marshall, der mich mit seinem plötzlichen Minnesota-Akzent überraschte.
    »Kommt mir vor wie ’ne ganze Menge Wölfe«, sagte Dolly. »Haben wir hier denn auch so viele?«
    Mein Vater schaltete sich reibungslos ein; verglichen mit Marshall klang er eleganter, kultivierter. Andererseits saßen wir hier immer noch im Il Pomodoro, also wie kultiviert konnte er schon sein? Aber immerhin. »Nein, nein, das Rudel von Mercy Falls wird nur auf zwanzig bis dreißig Tiere geschätzt. Höchstens.«
    Ich fragte mich, was Sam wohl zu dieser Unterhaltung gesagt hätte. Ich fragte mich, was er und Cole wohl zu unternehmen beschlossen hatten, wenn überhaupt irgendwas. Dann erinnerte ich mich an diesen seltsam entschlossenen Gesichtsausdruck, den Sam im Laden gehabt hatte, und plötzlich fühlte ich mich leer und unvollständig.
    »Und wieso ist unser Rudel dann so gefährlich?«, wunderte sich Dolly, das Kinn auf die Hand gestützt. Sie setzte einen Trick ein, den ich selbst schon zu oft angewendet hatte, als dass ich ihn nicht erkannt hätte. Die Interessiertes-Dummchen-Nummer eignete sich hervorragend, um Aufmerksamkeit zu erlangen.
    »Ihre Nähe zu Menschen«, antwortete mein Vater. Er gab einem der Kellner ein Zeichen: Wir wären dann so weit. »Das Einzige, was Wölfe normalerweise von Menschen fernhält, ist Angst, das heißt, sobald sie keine Angst mehr haben, werden sie in ihrem Revier zu extrem gefährlichen Jägern. In der Vergangenheit hat es immer mal wieder Wolfsrudel gegeben, in Europa und in Indien, die geradezu notorisch Menschen getötet haben.« In seiner Stimme lag keine Spur von Emotion: Als er Menschen getötet sagte, dachte er nicht Jack getötet. Mein Vater hatte nun ein Ziel, eine Mission, und solange er sich darauf

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