In deinen Augen
tupfte mein Kinn ab. »Ich hasse dieses verdammte Restaurant.«
»Okay«, sagte ich.
»Okay?«
»Okay.«
Sie stand auf und ich griff nach ihrer Hand, damit sie mich hochziehen konnte. »Du solltest dich aber wirklich nicht auf den Boden setzen – der ist dreckig, da könntest du dir ein Rotavirus oder Staphylokokken oder sonst was einfangen. Und warum hast du ein Stück Brot im T-Shirt?«
Vorsichtig pflückte ich die Krümel aus meinem Oberteil. Als wir so nebeneinander vor dem Spiegel standen, sahen meine Mutter und ich uns auf fast unheimliche Weise ähnlich, nur dass mein Gesicht eine tränenverschmierte, derangierte Ruine war und ihres nicht. Das genaue Gegenteil der vergangenen zwölf Monate.
»Okay«, sagte ich. »Gehen wir, bevor wieder irgendwer anfängt zu singen.«
KAPITEL 25
GRACE
Ich erinnerte mich nicht daran, geweckt worden zu sein. Ich erinnerte mich nur daran, zu sein. Ich setzte mich auf, blinzelte ins grelle Licht, vergrub das Gesicht in den Händen und strich mir über die Haut meiner Wangen. Mir tat alles weh – nicht wie nach einer Verwandlung, sondern als wäre ich unter einem Erdrutsch begraben gewesen. Der Fliesenboden unter mir war kalt, unerbittlich. Es gab kein Fenster und eine Reihe blendend heller Glühbirnen über dem Waschbecken ließ alles in permanentem Tageslicht erstrahlen.
Ich brauchte einen Moment, bis ich mich genügend gesammelt hatte, um mich umzusehen, und dann einen weiteren, um zu begreifen, was ich da sah. Ein Badezimmer. Eine gerahmte Postkarte, die irgendwelche Berge zeigte, neben dem Waschbecken. Eine verglaste Dusche, keine Badewanne. Eine geschlossene Tür. Mit einem Schlag kam die Erkenntnis – das hier war das Bad im oberen Stock von Becks Haus. Oh. Was das bedeutete, ließ mich nach Luft schnappen: Ich hatte es zurück nach Mercy Falls geschafft. Zurück zu Sam.
Zu überwältigt, um das alles wirklich fassen zu können, krabbelte ich auf die Füße. Die Bodenfliesen unter meinen Füßen waren voller Schlamm und Erde, deren Farbe – ein kränkliches Gelb – mich husten, nicht vorhandenes Wasser hochwürgen ließ.
Aus dem Augenwinkel sah ich eine Bewegung und ich erstarrte, die Hand noch vor dem Mund. Aber das war nur ich, im Spiegel: Eine nackte Grace mit deutlich zählbaren Rippen und weit aufgerissenen Augen starrte mir entgegen, den Mund hinter ihren Fingern verborgen. Ich ließ die Hand sinken, um meine unterste Rippe zu berühren, und wie aufs Stichwort fing mein Magen an zu knurren.
»Siehst ein bisschen verwildert aus«, flüsterte ich mir zu, nur um zu sehen, wie mein Mund sich bewegte. Ich klang immer noch wie ich. Das war gut.
Auf der Waschbeckenkante lag ein Stapel Kleider, so peinlich genau zusammengefaltet, wie es nur jemand tat, der entweder sehr oft Kleider faltete oder nie. Ich erkannte in ihnen den Inhalt meines Rucksacks wieder, den ich vor wie vielen Monaten auch immer hierher in Becks Haus mitgebracht hatte. Ich zog mein weißes Lieblingsoberteil mit den langen Ärmeln an und darüber ein blaues T-Shirt; die beiden waren wie alte Freunde. Dann Unterhose, Jeans und Socken. Keinen BH, keine Schuhe, denn das war alles noch im Krankenhaus – oder wo Sachen, die blutende Mädchen dort zurückließen, später so landeten.
Und das kam dabei heraus: Ich war ein Mädchen, das sich in einen Wolf verwandelt hatte, ich war beinahe gestorben, und das, was mich den ganzen Tag über am meisten stören würde, war, dass ich ohne BH rumlaufen musste.
Unter den Kleidern lag ein Zettel. Ich spürte ein seltsames Kribbeln im Bauch, als ich Sams vertraute Handschrift erkannte, dicht gedrängt und beinahe unleserlich.
Grace,
das hier ist wahrscheinlich das Schlimmste, was ich je getan habe – meine Freundin im Badezimmer einzusperren. Aber wir wussten nicht, was wir sonst mit dir anstellen sollten, bis du dich verwandelst. Ich hab deine Sachen hier reingelegt. Die Tür ist nicht abgeschlossen, also kannst du einfach raus, sobald du Finger hast. Ich kann’s nicht erwarten, dich zu sehen. S
Glück. So hieß das Gefühl. Ich hielt den Zettel in der Hand und versuchte mich an die Geschehnisse zu erinnern, über die er schrieb. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie ich hier eingesperrt worden war, wie sie mich aus dem Wald geholt hatten. Es war, als sollte man sich an den Namen eines Schauspielers erinnern, nachdem einem sein vage bekanntes Gesicht gezeigt worden war. Meine Gedanken entwanden sich immer wieder provozierend knapp meinem
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