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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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gegenüber lachen und wusste, dass er mich mit noch irgendetwas beworfen hatte, ohne dass ich es mitbekommen hatte. Ich wollte nicht zu ihm hochgucken, weil ich dann nur wieder sein Gesicht vor dieser Wand sehen würde, wo damals Jacks gewesen war. Plötzlich wusste ich, dass ich mich übergeben würde. Nicht irgendwann in ferner Zukunft, nicht möglicherweise, sondern auf die »Ich muss sofort hier weg, sonst passiert gleich was schrecklich Peinliches«-Art.
    Ich schob meinen Stuhl zurück und rammte ihn Dolly in die Seite, die gerade wieder mitten in einer ihrer dämlichen Fragen war. Dann bahnte ich mir einen Weg zwischen Tischen und Sängerinnen und Vorspeisen aus Meeresgetier hindurch, das ausnahmsweise mal nicht von hier stammte.
    Ich schaffte es bis zur Toilette – keine Kabinen, nur ein einziger Raum, der mehr an ein Privatbadezimmer als eine Restauranttoilette erinnerte – und schloss die Tür hinter mir. An die Wand gelehnt, die Hand über dem Mund, stand ich da. Aber ich übergab mich nicht. Ich fing an zu weinen.
    Ich hätte es nicht zulassen dürfen, denn schließlich musste ich ja wieder da raus und dann hätte ich eine rote, geschwollene Nase und Kaninchenaugen und alle würden es mir ansehen, aber ich konnte einfach nicht aufhören. Es war, als würde ich an meinen eigenen Tränen ersticken. Ich musste keuchen, um überhaupt Luft zu bekommen. In meinem Kopf gab es nur noch Jack, wie er da an dem Tisch gesessen und sich wie ein Arschloch benommen hatte, die Stimme meines Vaters, der über Scharfschützen in Helikoptern redete, den Gedanken daran, dass Grace beinahe gestorben war, ohne dass ich es auch nur mitbekommen hatte, blöde Jungs, die mir Sachen ins Oberteil warfen, das für ein Abendessen mit der Familie wahrscheinlich sowieso zu weit ausgeschnitten war, Cole, der vor dem Bett stand und auf mich herunterblickte, und die Sache, die mich überhaupt erst so weit gebracht hatte: Sams ehrliche, gebrochene SMS über Grace.
    Jack war fort, mein Vater kriegte immer, was er wollte, ich wollte und hasste Cole St. Clair und niemand, niemand würde je so für mich empfinden wie Sam für Grace in dem Moment, als er diese SMS an mich schrieb.
    Mittlerweile saß ich auf dem Boden, den Rücken an den Schrank unter dem Waschbecken gelehnt. Ich dachte daran, wie hart ich zu Cole gewesen war, als ich ihn, vollkommen fertig, in Becks Haus auf dem Fußboden gefunden hatte – nicht das letzte Mal, sondern damals, als er mir gesagt hatte, er müsse raus aus seinem Körper, ansonsten würde er sich umbringen. Ich hatte ihn für so schwach, so egoistisch, so wehleidig gehalten. Aber jetzt verstand ich ihn. Wenn in diesem Moment jemand zu mir gesagt hätte: Isabel, ich kann dafür sorgen, dass es aufhört, du musst nur diese Tablette schlucken … Ich hätte es getan.
    Es klopfte an der Tür.
    »Besetzt«, rief ich, wütend darüber, dass meine Stimme sich so belegt und so wenig nach mir anhörte.
    »Isabel?« Meine Mutter.
    Ich hatte so heftig geweint, dass ich nur stoßweise atmen konnte. Ich gab mir Mühe, ruhig zu sprechen. »Bin in einer Sekunde draußen.«
    Der Knauf drehte sich. In meiner Eile hatte ich vergessen abzuschließen.
    Meine Mutter betrat das Badezimmer und machte die Tür hinter sich zu. Beschämt ließ ich den Kopf hängen. Ihre Füße, nur Zentimeter vor meinen eigenen, waren alles, was ich von ihr sehen konnte. Sie hatte die Schuhe an, die ich für sie gekauft hatte. Das brachte mich erneut zum Weinen, und als ich versuchte, das Schluchzen zu unterdrücken, kam ein schrecklicher, erstickter Laut aus meiner Kehle.
    Meine Mutter setzte sich neben mich auf den Boden, ebenfalls mit dem Rücken zum Waschbecken. Sie duftete nach Rosen, genau wie ich. Sie stützte die Ellbogen auf die Knie und rieb sich mit einer Hand über ihr beherrschtes Dr.-Culpeper-Gesicht.
    »Ich sag den anderen, dass dir schlecht geworden ist«, erklärte meine Mutter.
    Ich vergrub das Gesicht in den Händen.
    »Ich habe drei Gläser Wein getrunken. Also kann ich nicht fahren.« Sie zog den Autoschlüssel hervor und hielt ihn so, dass ich ihn durch den Spalt zwischen meinen Fingern sehen konnte. »Aber du.«
    »Was ist mit Dad?«
    »Dad kann bei Marshall mitfahren. Die zwei sind doch ein tolles Gespann.«
    Da blickte ich auf. »Die sehen mich doch.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Wir gehen durch den Seitenausgang raus. Dann müssen wir nicht mehr am Tisch vorbei. Ich ruf ihn an.« Sie zog ein Taschentuch aus der Handtasche und

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