In deinen Augen
ich sogar wohnen wollen, mit Grace, wenn sie einverstanden war. Alles Gute und Unkomplizierte an mir hätte man mit diesem einen Akkord zusammenfassen können. Es war der zweite, den Paul mir beigebracht hatte, hier auf dieser uralten karierten Couch. Der erste: e-Moll. Als Begründung dafür hatte Beck im Vorbeigehen einen seiner Lieblingsfilme zitiert, eine Erinnerung, die mir jetzt einen kleinen Stich versetzte: »In jedem Leben muss etwas Regen fallen.«
»Und«, fügte Paul hinzu, »in jedem Song muss eine Überleitung in Moll vorkommen.«
Das düstere e-Moll war einfach für einen Anfänger wie mich. Viel komplizierter war da schon das harmonische G-Dur. Aber bei Paul wirkte seine Fröhlichkeit vollkommen mühelos.
Das war der Paul, an den ich mich heute erinnerte, nicht der Paul, der mich als Kind in den Schnee geworfen hatte. Genau wie ich mich an die Grace erinnerte, die jetzt oben schlief, und nicht an den Wolf mit ihren Augen, den wir in der Grube im Wald gefunden hatten.
Ich hatte einen so großen Teil meines Lebens damit verbracht, Angst zu haben oder in der Erinnerung an Situationen zu leben, in denen ich Angst gehabt hatte.
Schluss damit.
Ich spielte auf den Saiten der Gitarre herum, während ich den Flur hinunterging, zum Badezimmer. Das Licht war schon an, ich musste also nicht aufhören zu spielen, während ich dastand und auf die Badewanne am anderen Ende des Raumes starrte.
Dunkelheit drängte sich von beiden Seiten gegen mein Sichtfeld, Erinnerungen strömten auf mich ein. Ich spielte weiter Gitarre, zupfte einen Song über die Gegenwart, um die Vergangenheit von mir zu stoßen. So stand ich da, den Blick fest auf die leere Wanne gerichtet.
Wasser schwappte und beruhigte sich wieder
rot vor Blut
Der Druck des Gitarrengurts auf meiner Schulter schien mich zu erden. Die Saiten unter meinen Fingern hielten mich im Hier und Jetzt. Oben schlief Grace.
Ich machte einen Schritt ins Badezimmer und erschrak, als sich mein Spiegelbild bewegte. Ich hielt inne und musterte mich. War das mein Gesicht, so wie es jetzt aussah?
Wasser, das den Stoff meines T-Shirts durchtränkte das ist nicht Sam
drei, zwei
Ich ließ meine Finger einen C-Dur-Akkord greifen. Füllte meinen Kopf mit allem, was dieser Akkord für mich bedeutete: She came to me in summer, my lovely summer girl. Ich klammerte mich an Grace’ Worte von zuvor. Sag mal, Sam, willst du mich heiraten?
Grace hatte so viel getan, um mich zu retten. Jetzt war es an der Zeit, das selbst in die Hand zu nehmen.
Meine Finger hielten nicht still, als ich auf die Badewanne zuging, meine Gitarre übernahm das Singen, als ich es nicht mehr konnte, und dann stand ich vor der Wanne und blickte hinein. Einen Moment lang war sie nichts als ein gewöhnlicher, ganz alltäglicher Gegenstand, nur ein trockenes Becken, das darauf wartete, gefüllt zu werden.
Dann begann das Schrillen in meinen Ohren.
Ich sah das Gesicht meiner Mutter vor mir.
Ich konnte es nicht.
Meine Finger fanden G-Dur und griffen, ganz ohne mich, tausend Variationen davon, Songs, die sie spielen konnten, während meine Gedanken an anderen Orten weilten. Songs, die Teil von etwas Größerem waren als mir, ein grenzenloser Speicher voll Glück, den jeder anzapfen konnte.
Ich zögerte und meine Akkorde hallten von den Fliesen zu mir zurück. Die Wände schienen eng, die offene Tür weit hinter mir.
Ich kletterte in die Wanne, meine Schuhsohlen quietschten leise auf der trockenen Emailoberfläche. Mein Herz hämmerte unter meinem T-Shirt. In meinem Kopf summten Bienen. Tausende von Minuten, die nicht jetzt waren, erwachten dort zum Leben: Minuten mit Rasierklingen, Minuten, in denen alles, was mich ausmachte, gurgelnd im Abfluss verschwand, Minuten, in denen Hände mich unter Wasser drückten. Aber da war auch Grace, die meinen Kopf über der Oberfläche hielt, Grace’ Stimme, die mich zu mir zurückrief, Grace, die mich bei der Hand nahm.
Und doch war diese Minute wichtiger als all die anderen. Die Minute, in der ich, Sam Roth, aus eigener Kraft hierhergekommen war, in den Händen meine Musik, stark, endlich stark. Rilke schreibt:
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
daß, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.
So fand mich Cole, eine Stunde später. Ich saß im Schneidersitz in der leeren Wanne, die Gitarre im Schoß. Meine Finger entlockten ihr ein G-Dur und ich sang ein Lied, das ich nie zuvor gesungen hatte.
KAPITEL 29
SAM
Wake me up
wake me up,
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