Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
Vom Netzwerk:
sanft daran. Ein Moment des Zögerns, dann flitzte der Waschbär zurück unters Auto. Wieder ohne das geöffnete Tor auch nur zu beachten. Als Verfechterin der Logik warf Grace aufgebracht die freie Hand in die Luft. »Der Ausgang ist direkt vor deiner Nase! Eine ganze Wand breit!«
    Mit etwas mehr Enthusiasmus, als die Aufgabe erforderte, stocherte Cole wieder mit seinem Besenstiel unter dem Wagen herum. Gebührend entsetzt über diesen Angriff, huschte der Waschbär zurück zur Gießkanne. Der Geruch seiner Angst war genauso stark wie der Gestank seines Fells und irgendwie war sie ansteckend.
    »Das«, erklärte Cole und stieß den Besenstiel neben sich auf den Boden wie ein Moses in Jogginghose, »ist der Grund, warum Waschbären noch nicht die Weltherrschaft übernommen haben.«
    »Das«, erwiderte ich, »ist der Grund, warum immer wieder auf uns geschossen wird.«
    Grace sah mitleidig auf den Waschbären hinunter, der in seiner Ecke kauerte. »Kein Sinn für komplexe Logik.«
    »Kein räumliches Vorstellungsvermögen«, korrigierte ich. »Wölfe können komplexe Logik durchaus verstehen. Nur keine menschliche. Keine räumliche Vorstellung. Kein Sinn für Zeit. Kein Sinn für Grenzen. Der Boundary Wood ist einfach zu klein für uns.«
    »Dann siedeln wir die Wölfe eben an einen geeigneteren Ort um«, sagte Grace. »Mit einer niedrigeren Anzahl von Menschen pro Quadratkilometer. Irgendwo, wo es weniger Tom Culpepers gibt.«
    »Tom Culpepers gibt es überall«, sagte ich im selben Moment, in dem auch Cole es aussprach, und Grace schenkte uns beiden ein wehmütiges Lächeln.
    »Das müsste schon ziemlich abgelegen sein«, überlegte ich. »Und es darf kein Privatgelände sein, außer natürlich, es gehört uns, aber so reich sind wir wohl eher nicht. Und es dürfen nicht schon andere Wölfe dort leben, sonst besteht die Chance, dass sie uns gleich zu Anfang töten. Und es müsste Beute geben, sonst verhungern wir sowieso. Außerdem bin ich mir nicht sicher, wie man mehr als zwanzig Wölfe überhaupt einfangen sollte. Cole versucht es ja schon die ganze Zeit und er hat bisher nicht einen einzigen erwischt.«
    Grace hatte ihr stures Gesicht aufgesetzt, was bedeutete, dass sie langsam schlechte Laune bekam. »Jemand ’ne bessere Idee?«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    Cole kratzte sich mit dem Ende des Besenstiels die nackte Brust und sagte: »Na ja, immerhin sind sie ja vorher auch schon mal umgesiedelt worden.«
    Womit ihm Grace’ und meine ungeteilte Aufmerksamkeit sicher war.
    In dem lässig-gedehnten Tonfall von jemandem, der ganz genau weiß, wie gern andere seine Neuigkeit hören wollen, fuhr Cole fort: »Becks Tagebuch fängt an, als er zum Wolf wird. Aber es fängt nicht in Minnesota an.«
    »Okay«, stöhnte Grace. »Ich beiße an. Wo denn dann?«
    Mit dem Besenstiel deutete Cole auf das Nummernschild über der Tür, BECK 89. »Irgendwann ist der Bestand an echten Wölfen angestiegen und die haben, wie Ringo hier schon sagte, angefangen, die Teilzeitwölfe um die Ecke zu bringen, und da hat er beschlossen, dass die einzige Möglichkeit ein Umzug war.«
    Ich fühlte mich seltsam hintergangen. Es war ja nicht so, als hätte Beck mich über seine Herkunft angelogen – ich war mir ziemlich sicher, dass ich ihn nie direkt gefragt hatte, ob er schon immer hier in Minnesota gelebt hatte. Und es war auch nicht so, als hätte dieses Nummernschild nicht die ganze Zeit genau vor meiner Nase gehangen. Es war nur – Wyoming. Cole, dieser gutartige Eindringling, wusste also Sachen über Beck, die ich nicht wusste. Ein Teil von mir flüsterte mir zu, der einfache Grund dafür könnte sein, dass Cole den Mumm hatte, Becks Tagebuch zu lesen. Ein anderer Teil von mir aber widersprach, dass das dazu nicht hätte nötig sein sollen.
    »Und steht da auch, wie er das gemacht hat?«, erkundigte ich mich.
    Cole bedachte mich mit einem seltsamen Blick. »Vage.«
    »Wie, vage?«
    »Da stand nur, dass Hannah ihnen sehr geholfen hat.«
    »Von einer Hannah hab ich noch nie was gehört«, sagte ich. Ich wusste, wie argwöhnisch ich klingen musste.
    »Überrascht mich nicht«, sagte Cole. Wieder dieser komische Gesichtsausdruck. »Beck schreibt, dass sie erst seit Kurzem ein Wolf war, aber es anscheinend trotzdem nicht schaffte, so lange wie die anderen ein Mensch zu bleiben. In dem Jahr, nachdem sie umgezogen waren, hat sie aufgehört, sich zu verwandeln. Er schreibt, dass es ihr als Wolf offenbar leichter als den anderen fiel, an

Weitere Kostenlose Bücher