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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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er mir trotzdem glaubte. »Erzähl mir noch was Interessantes.«
    Ich griff nach seiner Hand, die auf dem Schalthebel lag. Als ich mit dem Daumen über die Innenseite seines Handgelenks strich, spürte ich, wie sich darunter Gänsehaut bildete. Mit den Fingerspitzen ertastete ich seine Narbe, die Haut in der Mitte unnatürlich glatt, an den Rändern noch immer runzelig und voller Knötchen.
    »An der Narbe spüre ich nichts«, sagte er. »Da habe ich überhaupt kein Gefühl.«
    Einen kurzen Moment schloss ich die Finger um sein Handgelenk, presste den Daumen fest auf seine Haut. Ich konnte das Flattern seines Pulses fühlen.
    »Wir könnten einfach immer weiterfahren«, sagte ich.
    Sam schwieg und zuerst dachte ich, er verstünde nicht, was ich meinte. Dann aber sah ich, wie unruhig sich seine Hände auf dem Lenkrad bewegten. Im Licht des Armaturenbretts erkannte ich, dass er immer noch Dreck unter den Nägeln der rechten Hand hatte. Anders als ich hatte er seine schmutzige Haut nicht zurückgelassen.
    »Woran denkst du?«, fragte ich.
    Als er antwortete, klang seine Stimme erstickt, als müsste er die Wörter erst aus seiner Kehle lösen, um sie herauszubringen. »Dass ich letztes Jahr um diese Zeit nicht gewollt hätte.« Sam schluckte. »Und dass ich jetzt, wenn wir könnten, wollen würde. Kannst du dir das vorstellen?«
    Das konnte ich. Ich konnte mir ein Leben weit weg von hier vorstellen, wie wir irgendwo ganz von vorn anfingen, nur wir zwei. Aber sobald ich die Bilder vor Augen hatte – Sams Socken, über einen Heizkörper unter einem Fenster drapiert, meine Bücher auf einem winzigen Küchentisch verteilt, benutzte Kaffeetassen, kopfüber in der Spüle stehend –, musste ich sofort an das denken, was ich zurücklassen würde: Rachel und Isabel und Olivia und, ja, auch meine Eltern. Durch das zweifelhafte Wunder meiner Verwandlung hatte ich sie so endgültig verlassen, dass meine alte Wut auf sie nur noch dumpf wirkte, weit entfernt. Sie hatten keine Macht mehr über meine Zukunft. Nichts hatte das, mit Ausnahme des Wetters.
    Dann, plötzlich, sah ich durch Sams Fenster die Aurora, klar und leuchtend und ganz offensichtlich keine Reflexion irgendwelcher Tankstellenlichter. »Sam, Sam! Guck, da! Bieg ab, schnell, da lang!«
    Links über uns schlängelte sich träge ein ausgefranstes rosa Band am Himmel. Es pulsierte und flackerte, als wäre es lebendig. Sam bog links ab in eine schmale, nur halbwegs gepflasterte Straße, die uns durch ein nicht enden wollendes schwarzes Feld führte. Das Auto rumpelte durch Schlaglöcher und schlingerte, hinter uns prasselte loser Kies. Meine Zähne klapperten hart aufeinander, als wir über einen Höcker fuhren. Sam stieß ein leises Ahhhhhhhhh aus und das Beben und Ruckeln des VW verlieh seiner Stimme ein verrücktes Tremolo.
    »Halt hier an!«, befahl ich.
    Das Feld erstreckte sich meilenweit in alle Richtungen. Sam zog die Handbremse an und wir spähten gemeinsam durch die Frontscheibe.
    Direkt über uns am Himmel stand die Aurora borealis. Wie eine leuchtende rosa Straße wand sie sich durch die Luft und verschwand hinter den Bäumen, an einer Seite gesäumt von einer Aura aus dunklerem Violett. Sie schimmerte und dehnte sich aus, wuchs und schrumpfte, strebte nach oben und zog sich wieder zusammen. In einem Moment war sie nur ein einzelner Pfad direkt in den Himmel und im nächsten eine ganze Ansammlung von Lichtern, eine glühende Armee, die stetig gen Norden marschierte.
    »Willst du aussteigen?«, fragte Sam. Meine Hand lag bereits auf dem Türgriff. Die Luft draußen war kalt genug, um Biss zu haben, aber mir ging es gut, zumindest im Augenblick. Ich trat neben Sam, der sich an die Motorhaube lehnte, und stützte mich ebenfalls rücklings auf die Hände. Der Motor unter dem Blech war noch warm, ein Puffer gegen die Kühle der Nacht.
    Zusammen blickten wir nach oben. Das flache, dunkle Feld rings um uns ließ den Himmel weit wie das Meer wirken. Mit dem Wolf in und Sam neben mir, zwei so seltsamen Wesen, überkam mich das Gefühl, dass wir ein wesentlicher Bestandteil dieser Welt, dieser Nacht, dieses grenzenlosen Rätsels waren. Mein Herz schlug schneller, aus Gründen, die ich nicht ganz erfassen konnte. Plötzlich war ich mir der Tatsache sehr bewusst, dass Sam nur wenige Zentimeter von mir entfernt war, dass er mich beobachtete, während der Atem in weißen Wolken vor seinem Gesicht stand.
    »Von Nahem ist es schwer zu glauben«, sagte ich und aus irgendeinem

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