In deinen Augen
wahnsinnig schnell verändert und viel tiefer kann sie nicht mehr sinken. Sie verliert alles, was sie hat.«
Der letzte Pfannkuchen brannte an. Ich riss die Pfanne vom Herd. »Mir gefällt’s nicht, wenn sie hier rumschleicht.«
»Ich glaube … ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst«, beruhigte mich Sam. Shelby regte sich noch immer nicht und starrte weiter auf seine Silhouette. »Ich glaube, sie gibt mir die Schuld.«
Plötzlich zuckte Shelby zusammen, als im selben Moment Coles Stimme durch den Garten schallte: »Hau ab, du psychotisches Miststück!«
Sie huschte davon ins Dunkel und die Hintertür knallte zu.
»Herzlichen Dank, Cole«, sagte ich. »Du bist immer so wunderbar subtil.«
»Ja«, erwiderte Cole, »das ist eine meine hervorstechendsten Eigenschaften.«
Sam sah noch immer stirnrunzelnd aus dem Fenster. »Ich frage mich, ob sie –«
Das Telefon auf der Kücheninsel klingelte und schnitt ihm das Wort ab. Cole griff danach. Dann zog er eine Grimasse und reichte es, ohne ranzugehen, an mich weiter.
Das Display zeigte Isabels Nummer. »Hallo?«
»Grace.« Ich wartete auf einen Kommentar zu meinem Menschsein, irgendwas Schnoddriges, Sarkastisches, aber mehr sagte sie nicht, bloß: Grace.
»Isabel«, erwiderte ich, nur um überhaupt was zu sagen. Ich warf Sam einen Blick zu, der meinen verwirrten Gesichtsausdruck spiegelte.
»Ist Sam bei dir?«
»Ja. Willst du … willst du mit ihm sprechen?«
»Nein. Ich wollte nur sichergehen, dass du …« Isabel hielt inne. Im Hintergrund war ziemlicher Lärm zu hören. »Grace, hat Sam dir erzählt, dass sie ein totes Mädchen im Wald gefunden haben? Das von Wölfen getötet worden ist?«
Ich sah Sam an, aber der konnte Isabel nicht hören.
»Nein«, antwortete ich nervös.
»Grace. Sie wissen jetzt, wer es ist.«
Alles in mir wurde ganz still.
Isabel sagte: »Es ist Olivia.«
Olivia.
Olivia.
Olivia.
Ich nahm meine Umgebung gestochen scharf wahr. Am Kühlschrank hing ein Foto von einem Mann, der neben einem Kajak stand und das Peace-Zeichen machte. Außerdem ein schmuddeliger Magnet in Form eines Zahns, mit dem Namen und der Telefonnummer einer Zahnarztpraxis. Neben dem Kühlschrank fing die Arbeitsplatte an, mit ein paar Kratzern darin, die bis hinunter in das farblose Material unter der Oberfläche reichten. Auf der Arbeitsplatte stand eine alte Coca-Cola-Flasche aus Glas, mit einem Bleistift darin und einem dieser Kugelschreiber, die aussahen wie Blumen. Der Wasserhahn über der Spüle tropfte alle elf Sekunden und der Tropfen lief erst ein Stück im Uhrzeigersinn um den Rand des Hahns, bevor er sich endlich traute, sich in das Becken darunter fallen zu lassen. Mir war noch nie aufgefallen, dass diese Küche komplett in warmen Farben gehalten war. Überall Braun, Rot, Orange, in den Arbeitsflächen und Schränken und Fliesen und den verblassten Fotos an den Schranktüren.
»Was hast du gesagt?«, rief Sam. »Was hast du zu ihr gesagt?«
Ich verstand nicht, warum er mich das fragte, da ich doch gar nichts gesagt hatte. Stirnrunzelnd blickte ich ihn an und merkte, dass er nun das Telefon in der Hand hielt, obwohl ich mich nicht erinnern konnte, es ihm gegeben zu haben.
Ich dachte: Ich bin eine furchtbare Freundin, es tut überhaupt nicht weh. Ich stehe nur hier in dieser Küche und denke, wenn das meine wäre, würde ich einen Teppich reinlegen, dann würden meine Füße nicht so kalt auf dem nackten Boden. Dann hat Olivia mir wohl nichts bedeutet, wenn mir noch nicht mal nach Weinen zumute ist. Wenn ich an Teppiche denken kann, anstatt daran, dass sie tot ist.
»Grace«, sagte Sam. Im Hintergrund sah ich Cole weggehen, das Telefon am Ohr. »Wie kann ich dir helfen?«
Das, fand ich, war eine seltsame Frage. Ich sah ihn nur an. »Mit mir ist alles in Ordnung.«
»Ist es nicht.«
»Doch«, beharrte ich. »Ich weine nicht. Mir ist noch nicht mal nach Weinen.«
Er strich mir das Haar hinter die Ohren, nahm es an meinem Hinterkopf zusammen, als wollte er mir einen Pferdeschwanz binden, und hielt es dort fest. Dann flüsterte er mir ins Ohr: »Das kommt noch.«
Ich legte den Kopf an seine Schulter; er kam mir plötzlich so schwer vor, als könnte ich ihn unmöglich weiter aufrecht halten. »Ich will Leute anrufen und fragen, ob es ihnen gut geht. Ich will Rachel anrufen«, sagte ich. »Und John. Und Olivia.« Zu spät wurde mir klar, was ich gerade gesagt hatte, und ich öffnete den Mund, als könnte ich es irgendwie zurücknehmen
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