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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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in den Schlaf gelullt hatte.
    »In meinem Kopf dreht sich alles im Kreis«, sagte Grace. »Erzähl mir eine Geschichte.«
    Ich hörte auf, ihr durchs Haar zu streichen, die angenehm monotone Bewegung machte mich zu schläfrig. »Eine Geschichte?«
    »So wie einmal, als du mir erzählt hast, wie Beck dir das Jagen beigebracht hat.«
    Ich durchforstete mein Gedächtnis nach einer Anekdote, irgendetwas, das ohne allzu viele Erklärungen auskam. Etwas, das sie zum Lachen bringen würde. Doch alle meine Beck-Geschichten kamen mir nun beschmutzt vor, befleckt von Zweifel. Alles an ihm, was ich nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, schien mir nun apokryph.
    Ich suchte nach anderen Erinnerungen und sagte schließlich: »Dieser BMW-Kombi war nicht Ulriks erstes Auto. Als ich hierherkam, hatte er einen kleinen Ford Escort. Der war braun. Und potthässlich.«
    Grace stieß einen Seufzer aus, als wäre das ein angenehmer Anfang für eine Gutenachtgeschichte. Sie griff sich eine Handvoll von meinem T-Shirt, was mich sofort hellwach machte und voller Schuldbewusstsein an mindestens vier Sachen gleichzeitig denken ließ, die weder mit Gutenachtgeschichten zu tun hatten, noch mit selbstlosen Arten, ein trauerndes Mädchen zu trösten.
    Ich schluckte und konzentrierte mich wieder auf meine Erinnerungen. »An dem Auto war alles Mögliche kaputt. Wenn man damit über Bodenwellen fuhr, scharrte immer irgendwas über die Straße. Der Auspuff wahrscheinlich. Einmal hat Ulrik in der Stadt ein Opossum erwischt und es den ganzen Weg mit nach Hause geschleift.«
    Grace lachte ein kleines, geräuschloses Lachen, wie man es ausstößt, wenn man weiß, dass es von einem erwartet wird.
    Ich machte tapfer weiter. »Es hat auch immer so gerochen, als ginge jeden Moment noch mehr kaputt. Als würden die Bremsen versagen oder irgendwelche Gummiteile verschmoren oder vielleicht war es auch nur das Opossum, das er nie ganz abgekriegt hat.« Ich hielt inne und dachte an all die Fahrten in diesem Auto, wie ich auf dem Beifahrersitz saß und wartete, während Ulrik schnell in den Supermarkt flitzte und Bier besorgte, oder wie ich daneben am Straßenrand stand, während Beck über den stummen Motor schimpfte und mich fragte, warum zum Teufel er nicht einfach sein eigenes Auto genommen hatte. Das war damals, als Ulrik noch sehr häufig ein Mensch gewesen war, als sein Zimmer direkt neben meinem lag und ich oft von lauten Sexgeräuschen geweckt wurde, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass Ulrik zu diesem Zeitpunkt allein im Zimmer war. Diesen Teil verschwieg ich Grace.
    »Mit dem Auto bin ich immer zum Buchladen gefahren«, sagte ich. »Ulrik hat irgendwann einem Typen, der in St. Paul am Straßenrand Rosen verkaufte, den BMW abgekauft, und ich hab den Escort gekriegt. Zwei Monate nachdem ich den Führerschein gemacht hatte, blieb ich mit einem Plattfuß liegen.« Ich war damals sechzehn, und zwar auf die naivste Art und Weise: euphorisch und gleichzeitig total nervös, zum ersten Mal allein von der Arbeit nach Hause fahren zu dürfen, und als der Reifen platzte, mit einem entsetzlich lauten Knall, so als hätte jemand direkt neben meinem Ohr eine Pistole abgefeuert, dachte ich, mein letztes Stündlein hätte geschlagen.
    »Wusstest du, wie man einen Reifen wechselt?«, fragte Grace. So, wie sie es sagte, schien sie es jedenfalls zu wissen.
    »Absolut nicht. Ich musste rechts ranfahren, mitten in den Schneematsch, und mit dem Handy, das ich gerade erst zum Geburtstag bekommen hatte, Beck um Hilfe rufen. Das erste Mal, dass ich dieses Handy benutzte, und dann nur, um zuzugeben, dass ich keinen platten Reifen wechseln konnte. Wie entmannt fühlt man sich denn da bitte?«
    Wieder lachte Grace, ganz leise. »Entmannt«, wiederholte sie.
    »Jawohl, entmannt«, bekräftigte ich, froh über dieses leise Lachen. Ich kehrte wieder zu meiner Erinnerung zurück. Es hatte ewig gedauert, bis Beck endlich gekommen war, aber irgendwann hatte Ulrik ihn auf dem Weg zur Arbeit bei mir abgesetzt. Ulrik ignorierte meinen trübseligen Gesichtsausdruck und winkte mir fröhlich aus dem Fenster des BMW zu: Bis später, Kumpel! Und dann verschwand sein Kombi in der einsetzenden Dämmerung, die Rücklichter neonrot in der schneegrauen Welt.
    »Irgendwann kam jedenfalls Beck«, sagte ich und mir ging auf, dass ich entgegen meiner Absicht nun doch eine Anekdote über Beck erzählte. Vielleicht spielte er einfach in jeder meiner Anekdoten eine Rolle. »Und er sagte: ›Na, hast du

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