In deinen Augen
musste. Nachdem er alles in den Müll geworfen hatte, blieb er knapp außerhalb der Tür stehen, mit dem Rücken zu mir. Alles, was ich von ihm sehen konnte, war sein Hinterkopf mit der geradezu gruselig perfekten Rasurkante der stoppelkurzen Haare in seinem Nacken. Kurz unter dieser Kante hatte er eine dunkle Brandnarbe, die zu einem Tropfen zusammenzulaufen schien und schließlich in seinem Hemdkragen verschwand. Mir kam der Gedanke, dass hinter dieser Narbe eine Geschichte steckte – möglicherweise keine ganz so dramatische wie die meiner Handgelenke, aber doch eine Geschichte –, und die Tatsache, dass jeder Mensch eine Geschichte hatte, die sich hinter irgendeinem innerlichen oder äußerlichen Makel versteckte, das Gewicht all dieser unerzählten Vergangenheiten, erfüllte mich plötzlich mit Erschöpfung.
Koenig sprach gedämpft mit jemandem im Flur. Ich hörte nur einzelne Bruchstücke. »Samuel Roth … nein … Haftbefehl … Leiche? … was er findet.«
Mit einem Mal wurde mir übel. Die Hitze. Mein Magen zog sich zusammen und verdrehte sich und plötzlich überkam mich das entsetzliche Gefühl, dass ich mich trotz der Hitze – nein, wegen der Hitze – verwandeln würde, hier in diesem kleinen Raum, und es absolut nichts gab, was ich dagegen tun konnte.
Ich legte den Kopf auf die Arme; der Tisch roch nach abgestandenem Essen, aber wenigstens fühlte er sich kühl an meiner Haut an. Mein Magen zuckte und wand sich noch immer und zum ersten Mal seit Monaten fühlte ich mich nicht fest verankert in meiner Haut.
Bitte nicht verwandeln, bitte nicht verwandeln.
Mit jedem Atemzug wiederholte ich dieses Mantra in meinem Kopf.
»Samuel Roth?«
Ich hob den Kopf. Ein Polizist mit Tränensäcken unter den Augen stand in der Tür. Er roch nach Tabak. Es war, als wäre alles in diesem Raum speziell als Anschlag auf meine Wolfssinne gedacht.
»Ich bin Officer Heifort. Haben Sie etwas dagegen, wenn Officer Koenig im Zimmer bleibt, während wir uns unterhalten?«
Ich wusste nicht, ob ich irgendwelche Worte herausbringen würde, also schüttelte ich bloß den Kopf, die Arme immer noch auf den Tisch gestützt. Das Innere meiner Brust fühlte sich schwerelos an, alles in mir schien zu schwimmen.
Heifort zog den Stuhl mir gegenüber zurück – er musste ihn ziemlich weit zurückziehen, um genug Platz für seine stattliche Plauze zu schaffen. Er hatte einen Notizblock und einen Aktenordner dabei und legte beides vor sich auf den Tisch. Hinter ihm erschien wieder Koenig in der Tür, die Arme verschränkt. Für meine Begriffe sah Koenig viel mehr nach einem Polizisten aus, so formell und muskulös, trotzdem übte seine vertraute Gegenwart eine beruhigende Wirkung auf mich aus. Der Detective mit der Plauze schien mir regelrecht begeistert von der Vorstellung, mich in die Mangel zu nehmen.
»Also, wir werden Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen«, erklärte er, »und Sie beantworten sie einfach, so gut es geht, in Ordnung?« In seiner Stimme lag eine Herzlichkeit, die seine Augen nicht erreichte.
Ich nickte.
»Wo treibt sich Ihr Daddy denn in letzter Zeit so rum, Sam? Wir haben Geoffrey Beck schon ’ne ganze Weile nicht gesehen«, begann Heifort.
»Er ist krank«, antwortete ich. Eine Lüge auszusprechen, die ich schon mal verwendet hatte, fiel mir leichter.
»Tut mir leid, das zu hören«, erwiderte Heifort. »Was hat er denn?«
»Krebs«, sagte ich. Ich sah auf den Tisch hinunter und murmelte: »Er wird in Minneapolis behandelt.«
Das schrieb Heifort sich auf. Ich wünschte, er hätte es nicht getan.
»Die Adresse des Krankenhauses, wissen Sie die?«, fragte er weiter.
Ich zuckte mit den Schultern und versuchte, so viel Traurigkeit wie möglich in die Geste zu legen.
Koenig schaltete sich ein. »Ich helfe später, sie rauszusuchen.«
Auch das notierte sich Heifort.
»Zu welchem Thema möchten Sie mich denn genau befragen?«, wollte ich wissen. Ich hatte so das Gefühl, als ginge es eigentlich gar nicht um Beck, sondern um Grace, und ein nicht unwesentlicher Teil von mir lehnte sich gegen die Vorstellung auf, wegen des Verschwindens von jemandem festgenommen zu werden, den ich noch in der vergangenen Nacht in den Armen gehalten hatte.
»Na ja, wenn Sie schon so fragen«, erklärte Heifort und zog die Akte unter dem Notizblock hervor. Er nahm ein Foto heraus und legte es vor mir auf den Tisch.
Es war die Nahaufnahme eines Fußes. Eines Mädchenfußes, lang und schmal. Unter dem Fuß und dem, was ich
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