In deinen Augen
war im Prinzip alles, was NARKOTIKA je gewesen war: ein Weg, Cole St. Clair kennenzulernen. Victor und Jeremy hatten Jahre ihres Lebens damit verbracht, mir dabei zu helfen, den ganz eigenen Schmerz, den es bedeutete, ich zu sein, einem Publikum von Hunderttausenden zu beschreiben.
Sie hatten es so oft gemacht, dass sie mich eigentlich gar nicht mehr dazu brauchten. Ich erinnere mich an ein Interview, in dem sie so überzeugend waren, dass ich beschloss, nie wieder eine Frage von einem Journalisten zu beantworten. Das Interview fand in unserem Hotelzimmer statt, ganz früh am Morgen, weil wir später noch einen Flug erwischen mussten. Victor war verkatert und entsprechend mies gelaunt. Jeremy saß an einem winzigen Schreibtisch mit Glasplatte und aß Frühstücksriegel. Das Hotelzimmer hatte einen schmalen Balkon mit Aussicht auf gar nichts und ich lag dort draußen auf dem Betonboden. Am Anfang hatte ich noch Sit-ups gemacht, die Füße unter die unterste Stange des Balkongeländers gehakt, jetzt aber starrte ich nur noch auf die Kondensstreifen der Flugzeuge am Himmel. Der Journalist, der uns interviewte, saß im Schneidersitz auf einem der ungemachten Betten. Er war jung, sorgfältig auf cool gestylt und hieß Jan.
»Und wer von euch schreibt die Songs?«, hatte Jan gefragt. »Oder ist das Gruppenarbeit?«
»Definitiv Gruppenarbeit«, antwortete Jeremy in seinem trägen, lässigen Tonfall. Den Südstaatenakzent hatte er sich irgendwann um die Zeit zugelegt, als er zum Buddhismus konvertiert war. »Cole schreibt die Texte und ich bringe ihm Kaffee und dann schreibt Cole die Musik und Victor bringt ihm Salzbrezeln.«
»Dann schreibst du also die meisten Songs, ja, Cole?« Jan erhob die Stimme, damit ich ihn draußen auf dem Balkon hören konnte. »Woher bekommst du deine Inspiration?«
Von meiner Position auf dem Balkon aus, die Augen starr nach oben gerichtet, hatte ich zwei Ausblicke zur Wahl: entweder die Backsteinfassaden der Gebäude auf der anderen Straßenseite oder das Viereck farblosen Himmels direkt über mir. Wenn man auf dem Rücken lag, sahen alle Städte gleich aus.
Jeremy brach ein Stück von seinem Frühstücksriegel ab; wir alle hörten die Krümel auf den Tisch rieseln. Vom anderen Bett aus stöhnte Victor, immer noch mit einer Stimme, als litte er unter PMS: »Darauf kriegst du von ihm eh keine Antwort.«
Jan klang ernsthaft verwundert, als wäre ich der Erste, von dem er je eine Abfuhr kassiert hatte. »Warum nicht?«
»Ist halt so. Er hasst diese Frage«, antwortete Victor. Seine Füße waren nackt; er ließ die Zehenknochen knacken. »Ist ja auch ’ne ziemlich blöde Frage, Mann. Das Leben, klar? Daher holen wir uns unsere Inspirationen.«
Jan kritzelte etwas auf seinen Block. Er war Linkshänder und Schreiben sah ungelenk aus bei ihm, als wäre er eine Ken-Puppe, die nicht ganz richtig zusammengesetzt worden war. Ich hoffte, er schrieb sich Folgendes auf: Diese Frage nie wieder stellen. »Okay. Ähm. Eure EP One/Or the Other ist gerade in die Top Ten eingestiegen. Was sagt ihr zu diesem unglaublichen Erfolg?«
»Ich kaufe meiner Mutter einen BMW«, sagte Victor. »Ach was, ich kaufe einfach Bayern. Da kommen BMWs doch her, stimmt’s?«
»Erfolg ist ein arbiträres Konzept«, sagte Jeremy.
»Die nächste wird besser«, sagte ich. Ich hatte es bis dahin nicht laut ausgesprochen, aber jetzt schon, also war es die Wahrheit.
Noch mehr Gekritzel. Jan las die nächste Frage von seinem Zettel ab. »Äh, das bedeutet, dass ihr das Album von Human Parts Ministry von seinem Platz gekickt habt, den es vierzig Wochen lang innehatte. Nein, ’tschuldigung, einundvierzig. Im fertigen Interview gibt es solche Fehler nicht, keine Sorge. Auf jeden Fall hat Joey von Human Parts Ministry gesagt, dass sich Looking Up or Down seiner Meinung nach so lange so weit oben in den Charts gehalten hat, weil sich viele Leute mit dem Text identifizieren können. Glaubt ihr, eure Zuhörer da draußen identifizieren sich mit dem Text von One/ Or the Other?«
In One/Or the Other ging es um den Gegensatz zwischen dem Cole, den ich auf der Bühne durch die Monitorboxen hörte, und dem Cole, der nachts durch die Hotelflure wanderte. Genau das war One/Or the Other: das Wissen, dass ich umringt von Erwachsenen war, die Leben führten, wie ich niemals eins führen wollte. Es war das permanente Summen in mir, das mich drängte, irgendwas zu tun, worauf ich dann nichts fand, was einen Sinn hatte, der Teil von mir, der
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