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In deinen Augen

In deinen Augen

Titel: In deinen Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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wie eine Fliege war, die sich immer und immer wieder gegen eine Fensterscheibe warf. Es war die Sinnlosigkeit des Alterns. Ein Klavierstück, das ich zum ersten Mal richtig hinkriegte. Das Date, zu dem ich Angie abholte und sie eine Strickjacke trug, in der sie aussah wie ihre Mutter. Straßen, die in Sackgassen endeten, Karrieren, die an Schreibtischen endeten, und Songs, mitten in der Nacht in einer Turnhalle herausgeschrien. Die Erkenntnis, dass das hier das Leben war und ich nicht hineingehörte.
    »Nein«, sagte ich. »Ich denke, es geht um die Musik.«
    Jeremy aß das letzte Stück von seinem Frühstücksriegel. Victor ließ die Fingerknöchel knacken. Ich sah Menschen, klein wie Bakterien, in einem Flugzeug, klein wie eine Ameise, über mich hinwegfliegen.
    »Ich hab gehört, dass du früher im Kirchenchor gesungen hast, Cole«, sagte Jan nach einem Blick in seine Notizen. »Bist du immer noch praktizierender Katholik? Und du, Victor? Jeremy, von dir weiß ich, dass du keiner bist.«
    »Ich glaube an Gott«, kam Victor ihm entgegen. Besonders überzeugend klang es aber nicht.
    »Was ist mir dir, Cole?«, bohrte Jan nach.
    Ich starrte in den leeren Himmel und wartete auf das nächste Flugzeug. Entweder das oder ich musste auf die glatten Häuserfassaden gucken. One/Or the Other.
    »Eins kann ich dir über Cole sagen«, erklärte Jeremy. In dieser Stille klang es, als spräche er von einer Kanzel herab. »Coles Religion ist die Entlarvung des Unmöglichen. Er glaubt nicht an so was wie unmöglich. Er glaubt nicht an Nein. Coles Religion ist es, auf jemanden zu warten, der ihm sagt, dass irgendetwas nicht geht, nur damit er losziehen und es tun kann. Ganz egal, was es ist, Hauptsache, unmöglich. Hier, ich hab eine Schöpfungsgeschichte für dich. Am Anfang war ein Ozean und eine Leere und aus dem Ozean schuf Gott die Welt und aus der Leere schuf er Cole.«
    Victor lachte.
    »Ich dachte, du wärst Buddhist«, wandte Jan ein.
    »Nur in Teilzeit«, erwiderte Jeremy.
    Die Entlarvung des Unmöglichen.
    Zu beiden Seiten der Straße erhoben sich jetzt so hohe Kiefern, dass ich das Gefühl hatte, einen Tunnel mitten durch die Erde zu graben. Mercy Falls lag eine ungezählte Anzahl von Meilen hinter mir.
    Ich war wieder sechzehn und die Straße erstreckte sich vor mir, unendliche Möglichkeiten. Ich fühlte mich wie sauber gewischt, leer, als sei mir vergeben worden. Ich konnte ewig so weiterfahren, wohin ich wollte. Ich konnte sein, wer ich wollte. Aber ich spürte den Sog des Boundary Wood um mich herum und zum ersten Mal kam es mir nicht wie ein Fluch vor, Cole St. Clair sein zu müssen. Ich hatte eine Aufgabe, ein Ziel, und zwar das Unmögliche: ein Heilmittel zu finden.
    Ich war so nah dran.
    Die Straße rauschte unter meinem Auto dahin, meine Hand, die aus dem Fenster hing, war kalt. Zum ersten Mal seit Langem fühlte ich mich mächtig. Der Wald hatte die Leere genommen, die ich war, diesen Hohlraum, von dem ich dachte, er könnte niemals gefüllt werden, niemals befriedigt, und hatte dafür gesorgt, dass ich alles verlor – Dinge, von denen ich gar nicht gewusst hatte, dass ich sie gern behalten hätte.
    Und am Ende war ich Cole St. Clair, in neuer Haut. Die Welt lag mir zu Füßen und der Tag dehnte sich meilenweit vor mir aus.
    Ich zog Sams Handy aus der Tasche und wählte Jeremys Nummer.
    »Jeremy«, sagte ich.
    »Cole St. Clair«, erwiderte er, träge und lässig, als wäre er nicht im Geringsten überrascht. Dann schwiegen wir beide. Und weil er mich kannte, musste er nicht darauf warten, dass ich es aussprach. »Du kommst nicht mehr zurück, stimmt’s?«

KAPITEL 37
SAM
    Die Befragung fand in einer Küche statt. Die Polizeiwache von Mercy Falls war ziemlich klein und offenbar schlecht vorbereitet auf derlei Unterfangen. Koenig führte mich an einer Art Telefonzentrale vorbei – wo alle in ihren Gesprächen innehielten und mir hinterhersahen –, dann an zwei Büros voller Schreibtische und uniformierter Menschen, die sich über Computer beugten, und schließlich in einen winzigen Raum mit einer Spüle, einem Kühlschrank und zwei Snackautomaten. Es war Mittagszeit und der Geruch nach mikrowellenerhitztem mexikanischem Essen und Erbrochenem erschlug mich beinahe. Noch dazu war es unerträglich heiß.
    Koenig schob mich zu einem schmächtigen Holzstuhl an einem Klapptisch, von dem er erst noch ein paar Servietten, einen Teller mit einem halb aufgegessenen Zitronenriegel und eine Limonadendose abräumen

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