In deinen schlimmsten Träumen: Roman (German Edition)
faltete die Hände. »Es leuchtet mir völlig ein, dass Naomi Gallagher über ihr eigenes Verhalten an jenem Abend entsetzt ist und dass sie in Panik geriet, als ihr bewusst wurde, was sie da womöglich getan hat. Doch dann hat sie, um nicht das Gesicht zu verlieren, aus schierer Rachsucht diese beiden jungen Männer eines abscheulichen Verbrechens bezichtigt. Teenagerinnen sind ja berühmt für ihre melodramatischen Anfälle und ihre Gehässigkeit, diese Beschuldigung aber geht darüber weit hinaus.«
An dieser Stelle reckte sie, von Anya nicht anders erwartet, zur Bekräftigung die Handflächen gen Himmel. Als Nächstes würde sie garantiert einzelne Punkte an den Fingern abzählen.
»Das ist heimtückisch, bösartig und ganz und gar unbegründet.« Die Finger taten ihren Dienst.
Veronica Slater fuhr dann mit den üblichen Erläuterungen über falsche Beschuldigungen fort, mit denen man ja ach so schnell bei der Hand sei, und sie erklärte den Geschworenen, sie hätten gar keine andere Wahl, als ihre Mandanten freizusprechen und ihre Namen wieder reinzuwaschen.
Dieser Satz brachte Anya immer wieder zum Schmunzeln, schließlich wurden die Namen der Angeklagten in den Medien gar nicht genannt, sobald es sich um Sexualdelikte unter Minderjährigen handelte. Nichtsdestotrotz nickten die Geschworenen beipflichtend.
Anya hatte genug gehört. Sie erhob sich, tat dem Protokoll Genüge und nickte dem Richter zu, bevor sie sich durch die Hintertür verabschiedete.
Naomis Vater saß draußen auf der Freitreppe und barg das Gesicht in den großen, schwieligen Händen. Anya tat, als bemerke sie die feuchten, blutunterlaufenen Augen nicht, aus denen er zu ihr aufsah. »Nach allem, was mein kleines Mädchen durchgemacht hat, werden diese Dreckschweine jetzt einfach so davonkommen.« Er wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab. »Was ist das für eine Gerechtigkeit?«
Anya wusste nie, was sie in so einer Situation sagen sollte, ganz gleich, wie oft sie sie mit Angehörigen und Opfern auch durchlebte. Sie wusste nicht recht, ob sie stehen bleiben oder sich setzen sollte, und war fast erleichtert, als ihr Piepser sie lautstark an einen Termin erinnerte.
»Sagen Sie mir eines, Doc. Was für eine Lehre sollen diese verlogenen Vergewaltigerschweine daraus ziehen? Dass sie machen dürfen, was sie wollen? Herrgott, sollen wir uns bei denen auch noch bedanken, weil sie sie betäubt haben, anstatt sie vor der Vergewaltigung halbtot zu prügeln? Sollen wir uns am Ende darüber freuen, dass sie sich an nichts erinnern kann?« Er ließ den Kopf sinken und das Defilee aus dem Gerichtssaal stumm an sich vorbeiziehen. Der Vater erhob sich, wischte sich die Hände am Hemd ab und empfing seine Familie mit einem gezwungenen Lächeln.
Es gab nichts, was Anya hier noch tun konnte. Schweigend und mit einer bösen Vorahnung ging sie. Nach Veronica Slaters Auftritt durfte man davon ausgehen, dass die beiden Jugendlichen freigesprochen würden und Naomi dazu verdammt wäre, dies für den Rest ihres Lebens zu verarbeiten.
6
Nach einer Woche Dauerfernsehen, unterbrochen nur von nächtlichen Spaziergängen mit dem Labradorwelpen, konnte Lillian Willard ihren Sohn endlich zu einer Expedition ins Einkaufszentrum überreden.
Geduldig warteten sie mit ein paar anderen auf den Bus, und Geoff hielt in der Hoffnung, nicht erkannt zu werden, den Kopf gesenkt. Zum Glück würdigte niemand sie eines zweiten Blickes. Der Bus war nicht besonders voll, und seine Mutter setzte sich auf eine der hinteren Bänke. Er setzte sich dahinter, genau wie früher, wenn er als Kind mit ihr in die Stadt gefahren war. Nach scheinbar Hunderten von Haltestellen stiegen sie bei einer Ladenzeile aus.
Geoffrey starrte auf den vorüberrauschenden Verkehr. Hier war so viel mehr los als in Fisherman’s Bay: mehr Autos, mehr Laster, mehr Leute. Hupen gellten, und Reifen quietschten, genau wie im Film. Alles war so laut hier – viel zu laut. Und es stank nach Diesel. Die Luft war verpestet, kein Vergleich zur salzigen Luft im Gefängnis von Long Bay. Am Ellenbogen führte seine Mutter ihn an einer Bibliothek und einer Bank, vor der ein bewaffneter Sicherheitsmann stand, vorbei. Geoffrey zuckte zusammen, als er ihn sah, und plötzlich wollte er nur noch nach Hause.
»Der passt doch nur auf die Bank auf«, beruhigte ihn die Mutter.
Ein paar Eingänge weiter betraten sie dann einen dieser kirchlichen Wohltätigkeitsläden, wo man Kleidung, Spielzeug und Decken bekam. Ein
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