In deinen schlimmsten Träumen: Roman (German Edition)
Endotoxine.
2. Verdacht auf Säuglingsskorbut, verursacht durch chronischen Vitamin-C-Mangel oder beschleunigten Vitamin-C-Stoffwechsel. Hierdurch erklären sich die übermäßige Verletzlichkeit der Blutgefäße, die vermehrten Blutungserscheinungen und die gesteigerte Anfälligkeit für Knochenbrüche. Sepsis und hinzutretende Virusinfektion resultieren in einer heftigen Beschleunigung des Vitamin-C-Stoffwechsels. Die dokumentierten, wiederkehrenden Atemwegsinfektionen können dem Säuglingsskorbut zugeschrieben werden, der die Leistungsfähigkeit des Immunsystems erheblich herabsetzt.
3. Rippenfrakturen in Folge übermäßigen Kraftaufwands während der Herzmassage im Zuge des gescheiterten Wiederbelebungsversuchs, ungeachtet präexistenter Knochenschwäche.
Fazit: Das Kind starb eines natürlichen Todes. Die wiederkehrenden Virusinfektionen, Blutungen und Knochenbrüche sind aller Wahrscheinlichkeit nach Folge eines chronischen Vitamin-C-Mangels. Dieser Tod hätte verhindert werden können, hätte der Arzt unmittelbar bei der Einlieferung große Dosen Vitamin C intravenös verabreicht.«
Fassungslos las Anya sich die Schlussfolgerung ein zweites Mal durch. Nicht nur, dass Alf Carney einen möglichen Kindsmissbrauch und Mord vollständig ignorierte, er beschuldigte den behandelnden Arzt der fahrlässigen Tötung! Er hatte es unterlassen, darauf hinzuweisen, dass eine Herzmassage zur Fraktur des vorderen Rippenteils, nicht aber des hinteren Abschnitts führen konnte. Die verdächtigen Wunden auf dem Rücken des Kindes waren mit keinem Wort erwähnt worden, und es wurden keine Gewebeproben zur Absicherung des pathologischen Befunds entnommen. Sämtliche Umstände deuteten auf ein schweres körperliches Trauma infolge von Kindsmissbrauch hin. Es lag eine Erklärung des Sozialamts vor, wonach auf einen Hinweis der Großmutter mütterlicherseits hin eine Untersuchung wegen Kindsmissbrauchs eingeleitet worden sei. Eine Nachbarin hatte zu Protokoll gegeben, sie habe in der Nacht vor dem Tod des Kindes einen Mann ein schreiendes Baby anbrüllen hören.
Mit diesem Autopsiebericht aber war der Polizei die Möglichkeit genommen, wegen Missbrauchs zu ermitteln. Anya legte den Bericht auf den Teppich und klappte den Laptop auf. Sie steckte eben das Netzkabel ein, als das Telefon klingelte. Da sie den Hörer nirgends fand, drückte sie auf den Lautsprecherknopf der Ladestation.
»Hallo, Ben! Ich hab gerade an dich gedacht.«
»Hallo, Mum, ich genauso.«
»Wie geht’s dir? Gestern hast du dich ja schlimm angehört.«
Er atmete tief durch, zum Beweis dafür, dass die Nase wieder ganz frei war. »Viel besser.«
»Das freut mich. Warst du in der Vorschule?«
»Schon, aber da ist es irgendwie langweilig.«
Ben erzählte am Telefon nur selten von der Vorschule. Es hätte nichts genützt, weiter nachzubohren.
»Mummy, was machen wir, wenn ich wieder zu dir komme?«
»Also, ich hab einen neuen Song auf dem Schlagzeug gelernt. Den könnten wir miteinander spielen. Und vielleicht müssen wir noch mal ins Powerhouse-Museum. Die haben eine riesige Star-Wars -Ausstellung.«
»Auf Star Wars steh ich total. Woher hast du das gewusst?«
»Vielleicht kenne ich dich einfach.«
Einen Moment lang war es still. Dann flüsterte Ben beinahe: »Hab dich lieb, du fehlst mir.«
»Du mir auch, Speedie. Du mir auch. Ich hab dich so viel lieb wie bis ganz raus zur Unendlichkeit und zurück.«
»Und noch ein ganzes Stück weiter … Oh, Dad ruft. Badezeit.«
»Dann schau zu, dass du sauber wirst. Bis morgen.«
»Okay. Tschüs.«
Sie legte erst auf, als sie das Klicken am anderen Apparat gehört hatte.
Wenigstens hatte ihr Sohn den letzten Katarrh endlich überstanden. Wie andere Vorschulkinder hatte auch er eine permanent laufende Nase, entzündete Ohren und Hautausschläge, die sich nur als »viral« klassifizieren lie ßen. Jede Mutter wusste, dass die ersten Jahre des Zusammenseins mit anderen Kindern eine schier endlose Reihe von Infektionen der Atemwege und des Magen-Darm-Bereichs mit sich brachten. Krankheitsbedingt hatte er mehr Schwimmstunden versäumt als mitgemacht.
Sie fragte sich, ob Alf Carney Kinder hatte. Wohl kaum, denn sonst würde er wissen, dass das bei kleinen Kindern ganz normal und eben nicht pathologisch war; und ganz bestimmt kein Symptom für Skorbut.
Sie nahm den zweiten Autopsiebericht zur Hand – wieder ging es um einen Säugling, einen acht Wochen alten Jungen, mit dem gleichen Nachnamen wie im
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