In deinen schlimmsten Träumen: Roman (German Edition)
kochen schien ihr das einzig Vernünftige. Aber nun fragte sie sich, ob Geoffrey überhaupt noch Tee trank. Rasch durchsuchte sie den Vorratsschrank und stellte fest, dass sie vergessen hatte, der Sozialarbeiterin Kaffee auf die Einkaufsliste zu setzen. Was war sie für eine Mutter, die nicht wusste, was ihr Kind trank? Sie versuchte, das Schuldgefühl zu verdrängen.
Keine Angst, ihr würde schon etwas einfallen, so wie immer. Und weiß Gott, es war nie einfach gewesen. Sie nahm einen flachen Kochlöffel aus der zweiten Schublade und wendete damit die Eier. Damit er auch ganz bestimmt etwas aß, steckte sie eine Scheibe Weißbrot und eine Scheibe Vollkornbrot in den Toaster.
Geoffrey kam zurück, schnupperte und sagte kein Wort.
»Was möchtest du heute gern unternehmen? Es muss so vieles geben, was du schon lange einmal machen und sehen willst.«
»Ich will den Fernseher in meinem Zimmer haben.«
Schweigend strich Lillian Willard Butter auf den Toast und legte dann die Eier darauf. Ihr Sohn dankte ihr nicht. Er schaufelte sich einfach das Essen in den Mund, als hätte er seit Tagen nicht gegessen. Sie betrachtete sein Gesicht: Wie verhärtet es aussah. Die Zähne waren gelb, und ein Backenzahn war entweder völlig weggefault, oder er war ihm ausgeschlagen worden. Sie hatte nicht gewagt, ihn zu fragen, wie und warum er ihn verloren hatte.
»Wir können noch einen kleinen besorgen, wenn du magst. Von dem Geld, das du gespart hast vielleicht. Fernseher sind heutzutage viel billiger als früher.«
Geoffrey nickte.
»Ich hab mir gedacht, wir gehen diese Woche mal in die Geschäfte im Zentrum und besorgen dir was anzuziehen. Da kommt man ganz bequem mit dem Bus hin. Aber es muss nicht heute sein, wenn dir das lieber ist. Vielleicht willst du dich ja erst einmal eine Weile hier eingewöhnen. Das hat June wenigstens gemeint.«
»Okay«, entgegnete er, den Mund voller Ei.
»Dann will ich mal abspülen und mich anziehen.« Lillian sah auf die Uhr. »Wenn du heute doch schon einkaufen gehen willst, sollten wir lieber bis nach dem Berufsverkehr warten. Dann ist die Gefahr nicht so groß, dass uns jemand bemerkt.«
»Kann ich jetzt fernsehen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, lief Geoffrey aus der Küche und stieß im Flur mit Nick zusammen. Sein Cousin trug einen Korb Schmutzwäsche.
»Ich mach grad eine Trommel voll. Hast du noch was zu waschen?«
»Nein, du hast schon alles.« Lillian legte die Bratpfanne in die Spüle und trocknete sich die Hände an der Schürze ab. »Es ist wirklich ein Segen, dich nach all der Zeit wieder bei mir zu haben.«
Die ältere Frau war erleichtert gewesen, als Nick sich bereit erklärt hatte, bei ihr einzuziehen und ein Auge auf Geoffrey zu haben. Lillian wusste, dass sie ihrem Sohn körperlich nichts entgegenzusetzen hatte, wenn er gewalttätig wurde, aber dafür würde Nick Geoffrey ohne zu zögern in die Schranken weisen. Seit seiner Scheidung half ihr ihr Neffe gegen freie Kost und Logis nur zu gern.
»Wir modernen Männer sind alle so. Geoff braucht nur ein bisschen Training, dann hast du hier das schönste Leben.«
Aus dem Wohnzimmer hörte man kindliches Kichern.
»Apropos schönstes Leben, was schaut sich dein Cousin denn da gerade an?«
»Klingt nach Scooby Doo .«
Lillian schlich sich ins Wohnzimmer, wo ihr Sohn sich quer über dem Fernsehsessel fläzte, vor ihm auf dem Fußboden ein Stapel Reklamepost. Er hatte die Wäscheseiten aus der K-Mart-Werbung ausgerissen und grinste die spärlich bekleideten Models an.
Ihr Sohn war noch keine vierundzwanzig Stunden aus dem Gefängnis entlassen und schon betrachtete er sich unschuldige junge Frauen. Vielleicht hatte das Gefängnis ihn schlimmer gemacht.
Ihr Herz pochte heftig bei diesem Gedanken.
5
So erschöpft sie von der nächtlichen Untersuchung der Vergewaltigten auch war, Anya musste um zehn Uhr im Gericht sein. Diesmal brauchte eine junge Frau alle Unterstützung, die Anya aufbieten konnte.
»Du hast es fast überstanden«, sagte sie und drückte dem Teenager die Hand. »Du hast so viel erreicht. Ich weiß, es ist nicht leicht, aber du musst versuchen, noch eine kleine Weile durchzuhalten, tu es dir zuliebe.« Anya streichelte ihr über die trockene, schuppige Haut – Barometer für den Stress, unter dem die junge Frau stand. Sie hatte noch nie einen so schlimmen Fall von Dermatitis gesehen.
»Ich glaube, mir wird schlecht«, sagte Naomi, ließ Anyas Hand los und rannte zur Gerichtstoilette. Rasch folgte die
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