In deinen schlimmsten Träumen: Roman (German Edition)
hübsches Mädchen hinter dem Ladentisch sah auf und lächelte ihnen zu. Geoffrey blieb stehen und sah sie an. Ihr Gesicht gefiel ihm. Sie starrte ihn nicht an, sie kreischte nicht, und sie lief auch nicht davon, nicht wie diese Leute vor dem Gefängnis bei seiner Entlassung. Ihr langes blondes Haar sah weich aus, und er fragte sich, wie es wohl roch.
»Wie wär’s damit?« Seine Mutter zeigte auf ein Jeanshemd auf einer langen Stange mit Männerbekleidung.
»Okay.« Alles war besser als grüne Trainingsanzüge, dachte er.
Lillian suchte eine zweite Stange ab und brachte etliche lange Hosen, die sie ihm vor die Beine hielt. Das lächelnde Mädchen ergänzte die Auswahl um ein paar schwarze T-Shirts und erkundigte sich, ob er sie hinter dem Vorhang dort hinten im Laden anprobieren wolle. In der Kabine gab es einen Spiegel, und er zog sich bis auf die Feinrippunterhose aus, die seine Mutter gekauft hatte. Er konnte die beiden draußen schwatzen hören.
»Das sieht man nicht oft, dass Mutter und Sohn gemeinsam einkaufen gehen«, erklärte die hübsche Blonde.
»Ach, na ja, wir dachten uns, verbringen wir doch zur Abwechslung mal ein bisschen Zeit gemeinsam. Er hat ein paar ziemlich harte Jahre hinter sich.«
»Geben Sie einfach Bescheid, wenn ich irgendwie helfen kann«, sagte die Verkäuferin.
Geoffrey entschied sich für das gestreifte Hemd und schob es in eine schwarze Jeans, die ein bisschen schlabberig am Hintern war, aber die Länge stimmte. Ein Blick in den Spiegel, und er zog stolz den Vorhang zurück, um sich bewundern zu lassen.
»Passt, jetzt probier den Rest«, sagte seine Mum.
Er wartete darauf, dass sie ihm sagte, wie gut er aussah, doch sie blieb stumm.
Das Mädchen lächelte wieder. »Das Hemd passt zu Ihren blauen Augen«, sagte sie und beugte sich vor, um ihm ins Gesicht zu sehen. »Die sind wirklich phänomenal blau.«
Lillian wurde hektisch und schob Geoff zurück in die Umkleidekabine. Sie reichte ihm immer neue Kleidungsstücke über den Vorhang, bis er die Nase voll davon hatte, die Schaufensterpuppe zu spielen.
Eine Stunde später trug Geoffrey in zwei großen Papiertüten mehr Kleidungsstücke, als er je in seinem Leben besessen hatte. Er reichte sechzig Dollar über den Ladentisch, und das Mädchen gab ihm fünf Dollar wieder heraus. »Wenn es Sie interessiert, da drüben hätten wir noch ein paar Hüte und Baseballkappen, die sind eben reingekommen.«
Geoffrey folgte ihr zu einem Tisch, doch dann lenkte ein Stapel Comics auf dem Fußboden ihn ab.
»Das Phantom , da steh ich total drauf! Darf ich’s mir anschauen?«
»Aber sicher«, sagte sie und beugte sich vor. Ihr blondes Haar fiel nach vorn, und man sah die Ansätze ihrer Brüste unter dem Shirt. »Als Kind war ich auch ganz wild auf Comics, vor allem auf Archie . Wenn Sie wollen, können Sie den Stapel für’nen Fünfer haben.«
»Geoffrey, wir müssen Geld für den Fernseher sparen, vergiss das nicht.«
»Ich will die Comics, Mum. Du sagst doch selber immer, dass ich mehr lesen soll.«
Er zahlte und nahm den Stapel an sich, bevor seine Mutter protestieren konnte.
»Das ist ein toller Laden«, sagte er und lächelte dem Mädchen zu. »Da komme ich wieder.«
Es war das erste Mal seit Jahren, dass Lillian ihren Sohn lächeln sah. Und sie wünschte sich, er wäre niemals aus dem Gefängnis entlassen worden.
7
Zum Glück gibt es Weinflaschen mit Schraubverschluss, dachte Anya und goss sich aus einer Flasche, die sie vor mehreren Tagen angebrochen hatte, ein Glas Chenin Blanc ein. Den ganzen Tag über hatte sie in Besprechungen mit dem Gesundheitsministerium über Vorgehensweisen bei der Sicherung von Beweismaterial gestritten, und nun wollte Anya nur noch ihre Ruhe. Im Schneidersitz und mit einem großen, roten Kissen im Rücken, saß sie auf der Couch und schlug den ersten der Berichte auf, die Morgan Tully ihr zur Begutachtung zugeschickt hatte.
Die Akte aus dem Jahre 1998 dokumentierte den Tod eines dreimonatigen Mädchens, das in die Notaufnahme eingeliefert worden war, nachdem es in der Früh nicht geweckt werden konnte. Die Mutter war am Abend zuvor mit einigen Freundinnen etwas trinken gegangen und hatte das Kind in der Obhut ihres vierundzwanzigjährigen Lebensgefährten gelassen. Am nächsten Morgen hatte sie Spuren von Erbrochenem auf dem Kissen der kleinen Tochter entdeckt und versucht, sie zu wecken. Statt den Notarzt zu rufen, hatte sie das Kind in den Wagen gelegt und war ins nächste Krankenhaus
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