In deinen schlimmsten Träumen: Roman (German Edition)
ersten Bericht. Retinale Einblutungen, Quetschungen an Brust und Unterarmen; das Muster der Verletzungen war beunruhigend ähnlich. Diesmal pochte Carney sogar noch vehementer darauf, dass das Kind eines natürlichen Todes gestorben sei, liege in der Familie doch bereits ein Fall von Vitamin-C-Mangel vor. Schließlich hatte Carney das Schwesterchen des Babys untersucht, das ein Jahr vor dessen Geburt aus denselben Gründen verstorben war. Er berief sich zur Bekräftigung auf den vorangegangenen Bericht. Und wiederum konnte die Polizei ohne einen Autopsiebericht, der Missbrauch oder eine Tätlichkeit aufzeigte, nicht handeln.
Anya setzte das Gutachten zu diesen beiden ersten Berichten auf. Nach zwei Stunden hatte sie die Verweise zu all ihren Kommentaren angebracht und war sich sicher, dass diese Fälle, angesichts der unleugbaren Anzeichen für Kindsmissbrauch, wieder aufgenommen werden würden. Skorbut war in den Industriestaaten praktisch unbekannt, sah man von Fällen schwerster Unterernährung, wie sie bei Missbrauch vorkam, ab. Sogar in der Milch war Vitamin C enthalten, weshalb sie gerade bei kleinen Kindern extrem unwahrscheinlich war, auch dann, wenn Obst und Gemüse auf dem Speiseplan fehlten.
Anya hatte einen Stapel von zehn weiteren Akten zur Begutachtung vor sich und sah auf die Uhr. Es war zu früh, um ins Bett zu gehen, im Fernsehen liefen nur Doku-Dramen, also beschloss sie herauszufinden, wie viele Fälle von Skorbut Alf Carney wohl noch untergekommen waren.
In jedem der folgenden vier Fälle waren mikroskopische Untersuchungen nur im kleinstmöglichen Umfang durchgeführt worden. Die Gewebeproben zur sechsten Akte stammten von einem älteren Herrn, den man ertrunken an einem Strand an der Südküste aufgefunden hatte. Der Tote wies etliche Schnittwunden am Kopf auf, die Carney auf postmortale Einwirkungen zurückführte, ungeachtet des Blutaustritts aus den Wunden. Wenn Kopfverletzungen bisweilen auch Serum ausschwitzen konnten, insbesondere im Wasser, so legte ein großer Blutverlust an einem Körper, durch dessen Adern das Blut inzwischen nicht mehr floss, doch den dringenden Verdacht nahe, das Herz müsse zum Zeitpunkt, da die Verletzungen zugefügt wurden, noch geschlagen haben. Mit den Gewebeproben der Biopsie der Haut aus der Umgebung der Wunden ging Anya in ihr Büro. Dort knipste sie das Licht an und baute das kleine Mikroskop auf dem Schreibtisch auf. Sie konnte eindeutige Besonderheiten unter den unzähligen, am Glas fixierten Zellen ausmachen. Am Wundrand zeigte die Hautprobe Veränderungen durch eine Infektion im Frühstadium. Zur Sicherheit überprüfte sie ihren Befund und notierte dann das Auftreten von Granulozyten, einem Bestandteil des körpereigenen Abwehrsystems, der entscheidend dazu beitrug, Infektionen während der Wundheilung zu verhindern.
Das Auftreten dieser Zellen an der Wunde konnte nur bedeuten, dass der Mann noch am Leben gewesen war, als ihm die Verletzungen beigebracht wurden. Es war ausgeschlossen, dass er sie sich nach dem Tod zugezogen hatte, indem er beispielsweise in der Nähe der Fundstelle gegen die Felsen geschlagen war. Die Feststellung eines Unfalltods durch Ertrinken musste angesichts multipler Schnittverletzungen der Kopfhaut einer Neubewertung unterzogen werden, insbesondere, da es höchst unwahrscheinlich war, dass der Tote sich die Wunden selbst beigebracht hatte. Der Tod musste als Verdacht erregend eingestuft und die Ermittlungen wieder aufgenommen werden.
Völlig verblüfft, mit welcher Gewissheit Carney selbst bei den verdächtigsten Umständen jedes Verbrechen ausschloss, lehnte Anya sich auf dem Stuhl zurück. Die Auswirkungen waren ungeheuerlich.
War es denn denkbar, dass ein Pathologe derart unfähig war, oder verfolgte er vielmehr ganz eigene Ziele? Wenn Mordermittlungen aufgrund von Carneys Berichten eingestellt worden waren, wie viele Mörder mochten dann ihrer gerechten Strafe entgangen sein? Wie jeder Pathologe hatte er im Lauf der Jahre Tausende von Fällen bearbeitet. Die indirekten Auswirkungen auf die gesamte Justiz waren gewaltig. Morgan Tullys »politische Zeitbombe« war scharf.
8
Anya kam schon früh in das Zentrum, um liegen gebliebenen Bürokram aufzuarbeiten. Sie sah auf die Uhr: sieben Uhr morgens. Noch vier Stunden bis zum Treffen mit Dan Brody.
Nach wenigen Minuten klopfte Mary an die Tür und brachte eine dampfende Tasse schwarzen Kaffees.
Anya roch den Muntermacher und sah auf. »Womit hab ich mir das so früh
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