In deinen schlimmsten Träumen: Roman (German Edition)
verletzte sie damit die ärztliche Schweigepflicht, aber irgendwie musste die über den Serientäter informiert werden. Anyas Erfahrung nach würde die Gewalt nur eskalieren.
Später am selben Tag legte Anya in ihrem Büro in Annandale ungläubig den Hörer auf. Sie hatte sich die nächsten sechs von Morgan Tully übersandten Fälle vorgenommen und anschließend den Präsidenten des Colleges der Pathologie angerufen. Jede von ihr überprüfte Akte ließ sie zu dem Schluss kommen, dass Alf Carney abwegige bis ganz und gar spekulative Gründe konstruiert hatte, um eine natürliche Ursache für den jeweiligen Tod feststellen zu können. Kein Wunder, dass die Behörde gegen ihn ermittelte. Ungeachtet der höchst verdächtigen Umstände bei jedem der Todesfälle, waren der Polizei die Hände gebunden, sobald Carney das Ableben erst auf Vitamin-, Mineralstoffoder irgendeinen sonstigen Mangel zurückgeführt hatte.
Eine Tasse Kaffee und ein Stück Schokoladentorte in der Hand, klopfte die Sekretärin an die Tür.
»Du bist so still heute. Stimmt was nicht?«
Anya nahm die Gaben entgegen und stellte sie zu den Akten auf den Tisch. »Danke. Ein bisschen Koffein kann sicher nicht schaden.«
»Deine Anwaltskonferenz ist auf Donnerstag verlegt.«
Anya bemerkte Elaines besorgten Mutterblick.
»Lange Nacht?«
»Kann man so sagen. Aber das hier« – Anya deutete auf die Fallunterlagen – »das hat mir wirklich die Sprache verschlagen. Ich verstehe einfach nicht, wie jemand mit so viel Erfahrung und einem solchen Ansehen wie Alf Carney zu derartigen Schlussfolgerungen kommen kann. Du hast nicht zufällig mitbekommen, dass über seinen Gesundheitszustand gemunkelt würde?«
Elaine errötete gerade noch wahrnehmbar. »Bittest du mich da, diskrete Erkundigungen einzuholen?«
Anya fühlte sich unwohl dabei, mit Elaine über Peter Latham zu sprechen, vor allem, seit das ältere Paar angefangen hatte, einmal die Woche Bridge zu spielen. Sie wusste nicht, ob die Beziehung der beiden platonisch war, und sie wollte es auch nicht wirklich wissen. Sie aß den Zuckerguss von der Torte.
»Nein. Ich weiß selber nicht, worum ich dich bitte. Das ist alles so eigenartig.«
Elaine setzte sich in den Sessel vor Anyas Schreibtisch. »Peter hat mir erzählt, er wäre in letzter Zeit öfter mit Alf zusammen gewesen. Ich glaube, er hat Mitleid mit ihm. Seine Frau ist vor ein paar Jahren gestorben. Danach hat er was mit einer Heilpraktikerin angefangen, aber das hat nicht lange gehalten. Er hat wohl momentan irgendwie das Gefühl, die ganze Welt hätte sich gegen ihn verschworen.«
»Warum weiß ich nichts von all dem?«
»Als seine Frau starb, warst du gerade in England drüben. Seitdem spricht niemand mehr darüber. Außerdem, wenn ich den neuesten Klatsch und Tratsch wissen wollte, dann wärst du die Letzte, die ich fragen würde.«
»Schon gut. Ich habe ja durchaus Mitleid mit ihm, aber diese Akten sprechen Bände über seinen Mangel an Wissen und seine fragwürdigen Interpretationen. Von den objektiven Befunden ausgehend, komme ich nicht ein einziges Mal zum selben Schluss über die Todesursache.«
Als ahne sie den nächsten Gedanken voraus, beruhigte Elaine: »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass ich irgendjemandem etwas von dem hier erzählen würde.«
»Danke. Wenn ich das richtig sehe, hat Alf nie den Collegeabschluss gemacht. Er hat sich um Studium und Abschluss gedrückt, indem er immer auf dem Land tätig war, wo es keine Pathologen gab. Er hat angefangen, Autopsien vorzunehmen und mit der Polizei zusammenzuarbeiten, weil niemand sonst da war, der es hätte tun können.« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Jahre später hat ihn das College zum Ehrenmitglied ernannt, und niemand hat ihn je nach seiner Qualifikation gefragt.«
»Aber wenn seine Befunde so problematisch sind, wieso hat sie dann bis jetzt noch niemand angezweifelt?«
»Genau das verstehe ich ja auch nicht. Diese Fälle sind etliche Jahre alt. Davor hat es nie Beschwerden gegeben, was heißt, Anwälte und Polizei haben ihn geliebt. Seine Berichte haben dazu beigetragen, dass eine Menge Übeltäter verurteilt werden konnten.«
»Hast du nicht eben gesagt, er würde dauernd natürliche Todesursachen feststellen?«
»Und genau das ergibt keinen Sinn. Irgendwann hat er die Seiten gewechselt. Vielleicht hängt das ja mit dieser Heilpraktikerin zusammen?«
Elaine schlug die Beine übereinander. »Ein Mann im Banne einer Sirene?«
»Wohl kaum, aber
Weitere Kostenlose Bücher