In deinen schlimmsten Träumen: Roman (German Edition)
hat seine Strafe verbüßt, volle zwanzig Jahre, und nach Recht und Gesetz hat er sich damit seine Freiheit verdient.«
»Verdient?« Wieder blähten sich seine Nüstern, und er stellte sich ganz dicht vor Miss Bonython. »Dieses Arschloch ist von nichts geheilt. Und der Grund, wieso er seine volle Strafe bis zum Schluss absitzen musste, ist, dass er keinerlei Reue gezeigt hat. Er hat keine Bewährung bekommen, und ich bin ihm nichts schuldig. Und überhaupt, ein mordender Pädophiler lässt sich nicht resozialisieren. Der vergewaltigt und mordet immer weiter. Wenn Sie Kinder haben, sollten Sie besser Ihre Fenster und Türen verriegeln.«
Sie ließ sich nicht einschüchtern. Entweder hatte sie wirklich Mut, oder sie war wirklich dumm.
»Wie ich schon sagte, er hat seine Strafe verbüßt.«
»Unsere Aufgabe ist es, die Gesellschaft zu beschützen, aber nicht, den Babysitter für perverse Kindermörder zu spielen.«
Sie stemmte beide Hände in die Hüften, sah aber immer noch sehr klein aus.
»Detective, offenbar übersehen Sie leider, worum es hier geht. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, die Justiz hat Geoffrey Willard wieder in die Gemeinschaft entlassen. Und damit ist es Ihre Pflicht , ihn zu beschützen.«
2
Dr. Anya Crichton hasste berufsbedingte gesellschaftliche Verpflichtungen, vor allem, wenn es um Spendensammeln und Kontaktpflege ging. Man trippelt herum und macht Smalltalk mit Menschen, die man kaum kennt – gab es denn eine schlimmere Art, einen Abend zu vergeuden? Stumm verfluchte sie die »sozialen« Komitees, die solche pseudosozialen Treffen mit den Kollegen für einen integralen Bestandteil der Arbeit hielten. Warum ließen sie die Heuchelei nicht einfach sein und stellten eine Sammelbüchse im Büro auf?
Wenn sie ganz und gar aufrichtig war, musste sie eingestehen, der wahre Grund dafür, dass sie diese Festivitäten verabscheute, bestand darin, dass sie sich dabei jedes Mal als vollkommen unzulänglich vorkam. Nicht anders erging es ihr, wenn sie Ben, ihren vierjährigen Sohn, von der Vorschule abholte und sich mit den anderen Müttern unterhalten musste. Dass sie ein Kind zur Welt gebracht hatte, hieß noch lange nicht, dass sie sich jeder anderen Mutter seelenverwandt fühlte, aber das nahmen leider nur die wenigsten Frauen zur Kenntnis.
Außerdem ließ sich nicht leugnen, dass sie als selbstständige Gutachterin nur davon profitieren konnte, von den Kollegen gesehen zu werden. Und es war nie verkehrt, sich über die personellen und politischen Entwicklungen in der forensischen Pathologie ebenso auf dem Laufenden zu halten wie bei dem reinen Fachwissen.
Sie ließ den Blick durch den Saal schweifen und fragte sich, worüber sie mit jemandem reden könnte, der Golf spielte, Konferenzen in Übersee besuchte und dessen Kinder vor Jahren schon von daheim ausgezogen waren. Dummerweise traf das auf die meisten Anwesenden zu.
Nach einer erbitterten Scheidung sah sie ihren Sohn nur jedes zweite Wochenende, und damit waren Geschäftsreisen nach Übersee nur möglich, solange ein Klient die Kosten übernahm. Sie ging nicht davon aus, dass das jemals passieren würde. Seit sie nicht mehr in der staatlichen Pathologie arbeitete, musste sie auf bezahlte Krankheitstage, bezahlten Urlaub und geförderte Weiterbildungsmaßnahmen zwangsläufig verzichten. Und Konferenzgelder konnte sie sich völlig abschminken. Sie sparte jeden verfügbaren Dollar, um ihrem Exmann gerichtlich das gemeinsame Sorgerecht für ihr einziges Kind abtrotzen zu können. Die Arbeit als freie Rechtsmedizinerin war nicht annähernd so lukrativ wie erhofft.
Auf der anderen Seite des Foyers hatten sich nimmermüde Streiter für die Opferhilfe versammelt. Kommunalpolitiker, Sozialarbeiter, Psychologen und Familien, die das Verbrechen ins Unglück gestürzt hatte, standen unbehaglich in einer Gruppe beieinander, die von Bob Reynolds zusammengehalten wurde. Bob kämpfte seit über fünfundzwanzig Jahren für den Opferschutz und genoss hohes Ansehen als Strafrechtsexperte. Außerdem war er Anyas Vater.
Sie nahm einen Schluck Verdelho, spielte mit dem Kondenswasser an dem Glas und sah sich im Saal nach einem Verbündeten um. Der Vizecoroner hatte eben zum zweiten, vielleicht auch dritten Mal geheiratet. Sekretärinnen begafften die Klunker der Neuangetrauten, und Männer gaben bedingt lustige Anekdoten zum Besten, über die sie viel zu laut lachten.
Wohl oder übel musste sie an einem dieser peinlichen Alleinunterhalter vorbei, aber
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