In deinen schlimmsten Träumen: Roman (German Edition)
uns alles über Opfer eins zu sagen, was sie weitergeben kann. Da sie sich nun einmal nicht selbst bei uns meldet, müssen wir auf diese Weise so viel wie möglich über sie erfahren.«
»Was ist mit der Vergewaltigungsuntersuchung, die sie hat machen lassen? Kann man die anonym auswerten lassen?«, fragte Abbott.
»Nein«, blaffte Meira. »Nur, wenn sie uns die Erlaubnis dazu erteilt, und das hieße, dass sie Anzeige erstattet.«
»Na gut, aber wenn es anonym ist und die Beweise auf denselben Täter verweisen, dann hätten wir damit ein Muster, das den Schriftsatz an die Staatsanwaltschaft zusätzlich untermauern würde.«
Der Gedankengang leuchtete Anya ein, aber so einfach war es leider nicht. »Die leitende Staatsanwaltschaft hat unmissverständlich klargestellt, dass sie anonyme Proben in der Beweisführung nicht verwenden kann. Ich habe versucht, sie dazu zu bewegen, kodierte Proben anzuerkennen, aber es herrscht Uneinigkeit, ob das nicht ein Vertrauensbruch gegenüber dem Opfer wäre. Vor allem, da der Kode ja eindeutig einem Opfer zugeordnet sein muss. Das ist eine Frage der Beweiskette, mit der man praktisch ein Fass ohne Boden aufmacht.«
Abbott dachte einen Augenblick lang nach. »Dann sagen Sie der Frau doch einfach, dass sie einen falschen Namen angeben soll. Wie sollen wir denn wissen können, ob eine Frau diejenige ist, für die sie sich ausgibt? Auf die Art fühlt sie sich vielleicht sicher genug, um eine Aussage zu machen.«
»Das habe ich nicht gehört«, sagte Meira mit einem gequälten Lächeln.
Zum ersten Mal spürte Anya, dass sie auf derselben Wellenlänge mit der Leiterin der Sonderkommission war.
»Opfer eins hat um die Vernichtung ihrer Dokumentation gebeten, und diesem Ansuchen mussten wir Folge leisten. Es sind keine Beweismittel mehr vorhanden.«
Meira schleuderte ihren Stift vor sich auf den Tisch.
Hayden kraulte sich den Schnurrbart. »Haben wir schon Verdächtige?«
Abbott antwortete weniger selbstsicher: »Die Jungs haben gestern Nacht jemanden angehalten. Achtundzwanzig Jahre, weiß. Einsfünfundsiebzig, kräftig. Hatte ein Pornoheft im Auto und eine dunkle Kappe, Sonnenbrille. Er war ausfallend, unkooperativ und wohnt in Bahnhofsnähe.«
Hayden trat an die Konferenztafel und hielt die Einzelheiten fest. »Behalten Sie den auf jeden Fall weiter im Auge. Noch jemand?«
»Geoffrey Willard«, verkündete Meira. »Wurde vor drei Wochen aus Long Bay entlassen. Hat zwanzig Jahre für das Vergewaltigen und Erstechen einer Vierzehnjährigen abgesessen. Ein Meter siebzig, Gewicht zirka achtzig Kilo.«
»Ist vor ein paar Tagen getürmt, als die Nachbarn rausfanden, wer er ist, und seine Mutter mit Steinen bewarfen«, berichtete Hayden. »Wir möchten, dass er überwacht wird, sobald wir ihn finden.«
»Haben die Frauen den Täter nicht als größer und schwerer beschrieben?«, warf Abbott vorsichtig ein.
Quentin drehte sich auf dem Stuhl herum. »Die Größe des Angreifers wird oft überschätzt. Das ist nachvollziehbar, schließlich wurde man überwältigt und hat nicht mehr die normale Perspektive.«
Und dennoch beeinflussten Augenzeugen die Gerichte. Anya hatte einmal einen von Haydens Vorträgen besucht, als ein Mann in Sportdress in den Saal stürmte, Hayden eine Spielzeugpistole an den Kopf hielt und schließlich mit seiner Brieftasche floh. Die Beschreibungen aus dem mit Polizisten besetzten Auditorium reichten von einem einsfünfzig kleinen Weißen bis zu einem dunkelhäutigen, einsachtzig großen Mann von arabischem Aussehen. Eine Stunde darauf kehrte der vermeintliche Dieb in den Vortragssaal zurück und setzte sich in die erste Reihe. Im Anzug erkannte ihn niemand wieder. Das war Anya eine gro ße Lehre gewesen. Auf Augenzeugen war nur sehr eingeschränkt Verlass.
»Vergessen Sie aber nicht«, mahnte Anya, »dass Frauen, wenn sie vergewaltigt werden, sich oft an winzige Einzelheiten erinnern. Sie sind für eine relativ lange Zeitspanne in seiner Nähe. Außerdem scheinen ihre Sinne geschärft zu sein, sie bemerken Gerüche, Geräusche, Dinge, die anderen Verbrechensopfern entgehen.«
»Exakt«, sagte Hayden. »Und genau deshalb möchte ich die beiden Opfer, die bereits ausgesagt haben, noch einmal befragen. Diese Aussagen waren nicht annähernd detailliert genug.«
Das schien Meira persönlich zu nehmen, obwohl es wahrscheinlich gar nicht so gemeint war. Hayden war Perfektionist und stellte wesentlich mehr Fragen als jeder andere Ermittler. Und dadurch bekam er
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