In deinen schlimmsten Träumen: Roman (German Edition)
desto besser. Wir müssen eine Presseerklärung rausgeben. Anya, du wirst den Kontakt mit der großen Unbekannten aufnehmen – Opfer eins. Es wird weniger bedrohlich wirken, wenn du damit ankommst, und es gibt dir die Chance, unser unbekanntes Opfer zu befragen.«
Anya überflog die Liste. Die Frau, die die Fragebögen gebracht hatte, sagte, sie sei heute Vormittag am Haus der Davis’ vorbeigefahren. Das Anwesen stünde zum Verkauf, und es fehle jedes Anzeichen der Familie. Durch das Fenster habe sie gesehen, dass die Einrichtung abtransportiert war. Die Nachbarn wussten nicht, wohin sie gegangen seien, jemand meinte, sie wären in den Urlaub geflogen.
Es war nicht ungewöhnlich, dass ein Vergewaltigungsopfer innerhalb der ersten Monate nach der Tat umzog, ohne die Polizei über den neuen Aufenthaltsort zu informieren. Wenn die Familie derart rasch verschwunden war, musste man wohl davon ausgehen, dass Jodie Davis keinen Wert darauf legte, gefunden zu werden. Wahrscheinlich versetzte die Vorstellung, im Haus wohnen zu bleiben, sie in Panik. Und wer konnte ihr das verdenken, da sie erst vor kurzem dort eingezogen war? Das vorhandene Beweismaterial hatte nicht viel Wert, solange das Opfer die Aussage verweigerte.
»Wenn wir sie nicht finden, ist alles, was uns jetzt noch bleibt, Melanie Havelock«, konstatierte Meira. »Also an die Arbeit. Wie es aussieht, müssen wir sie so schnell es geht an einen sicheren Ort bringen.«
Abbott erhob sich. »Ich fahre zu ihr und sorge dafür, dass die Streife ein Auge auf sie hat.«
Auf dem Weg aus dem Konferenzraum sprach Hayden leise mit Anya.
»Sei vorsichtig, wenn du die erste Frau befragst. Alles, was du sagst, kann vor Gericht einem Kreuzverhör unterzogen werden. Sei vorsichtig, gib dem Verteidiger nichts in die Hand, was die Aussage des Opfers schwächen könnte. Gib ihr keine Hinweise, stell keine Suggestivfragen und leg ihr nichts in den Mund. Wenn du das tust, dann platzt die ganze Sache vor Gericht am Ende wie ein Luftballon, und der Dreckskerl kommt ungeschoren davon.«
Na toll, überhaupt kein Druck, dachte Anya. Sie betrachtete die Liste der abzuhakenden Punkte. Die meisten schienen sinnvoll, so zum Beispiel die Frage nach körperlichen Merkmalen, Freunden, Feinden, beruflicher Laufbahn. Aber dann stand da: »eheliche Reputation«. Was, um Gottes willen, sollte das denn heißen? Die Angaben zur Person waren klar: Bildungsstand, Urteilskraft, bisherige Wohnorte. Dass auch psychosexuelle Aspekte berührt werden sollten, war verständlich, aber Anya wünschte sich, jemand anderes würde das übernehmen. Jede dieser Informationen ließ sich als Waffe zum Rufmord missbrauchen. Ihrer Erfahrung nach hatte das Vorstrafenregister eines Opfers kaum etwas mit der Vergewaltigung zu tun. Aber es trug dazu bei, das Opfer in den Augen der Geschworenen zu einer Art böser Kreatur zu machen, die es nicht besser verdient hatte.
Auf der Freitreppe vor dem Gebäude erläuterte Hayden: »Die Atmosphäre da drin ist ziemlich gespannt. Sorrenti ist neu in der Position, und meine Anwesenheit empfindet sie als Affront. Nimm’s nicht persönlich.«
»Tu ich nicht.«
Sie gingen die Treppe hinunter, und Hayden geriet ein wenig außer Atem. »Es ist wichtig, dass du der Apothekerin ein paar spezifischere Fragen stellst. Zur Tat.«
Sie warteten ab, bis ein Streifenwagen aus der Tiefgarage gefahren war.
»Selbst wenn ich sie ausfindig machen kann, es ist völlig ungewiss, ob sie sich mit mir treffen wird, geschweige denn, ob sie sich über jede Einzelheit ihrer Vergewaltigung ausquetschen lassen will.«
»Ich weiß, aber im Augenblick können wir eben nur auf eine inoffizielle Aussage hoffen. Je mehr wir darüber wissen, wie sich dieser Kerl während der Tat verhält, desto größer ist die Chance, ihn möglichst bald zu erwischen. Vielleicht hat er einen entscheidenden Hinweis geliefert, zum Beispiel in der Art, wie er spricht, oder mit dem, was er gesagt oder nicht gesagt hat. Hat sich sein Verhalten während der Tat verändert, und was war der Auslöser dafür, wenn es denn einen gibt? Hat er auf ihr Flehen reagiert, oder hat ihn das womöglich noch aggressiver gemacht?«
»Du verlangst viel. Es könnte das gesamte Zentrum für sexuelle Übergriffe in Misskredit bringen, wenn das Gesundheitsministerium davon erfährt. Ich überschreite damit die Grenze von der Fürsprecherin der Patientin zur polizeilichen Vernehmungsbeamtin.«
»Jede Ärztin ist auch der öffentlichen
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