In deinen schlimmsten Träumen: Roman (German Edition)
hinterlässt.«
Einmütig nickten alle am Tisch. So gut wie jedes Vergewaltigungsopfer litt unter posttraumatischem Stress. Das Szenario war nicht ungewöhnlich.
»Melanies Vergewaltiger sagt zu den Frauen, wer keinen Schmerz spürt, spürt keine Liebe.«
Die Stimmung im Raum sank auf den Nullpunkt. Die meisten hier waren im Lauf der Woche wenigstens ein Mal nachts angefordert worden und waren mit ihren Kräften am Ende.
»Kommt das jemandem hier bekannt vor?«, hakte Anya nach. »Auch anonymisierte Informationen können für die Ermittlung von Nutzen sein, ihr braucht keine Angst zu haben, die Schweigepflicht zu verletzen.«
Die zehn Mitarbeiterinnen schüttelten die Köpfe. Es kam ihnen nicht bekannt vor.
»Wie geht es Melanie ansonsten?«, fragte Anya Mary.
»Sie hat wie geplant eine neue Arbeitsstelle angetreten, aber die Mutter holt sie in der Stadt ab. Sie wird viel Zeit und Unterstützung brauchen.«
Eine der neueren Therapeutinnen bat um Verzeihung für den Einwurf, aber sie fand es angebracht, hier das Thema Überstundenbezahlung zur Sprache zu bringen. Anya entschuldigte sich und ging mit Mary auf den Korridor.
»Wo genau werden die Trockenproben aufbewahrt?«
Mary holte einen Holzschemel aus dem Büro und trug ihn ins zweite Beratungszimmer. Der Schemel ließ sich zu einer Trittleiter ausklappen.
»Oberstes Schränkchen«, meinte sie. »Reich sie mir einfach runter.«
»Ich suche eine ganz bestimmte Probe.« Anya zog das oberste Schränkchen auf und tastete herum. Alles lag unter einer Staubschicht begraben, wenn das Gefühl nicht täuschte, auch eine tote Küchenschabe. Sie zog etliche große Papiertüten heraus und las die Namen, bevor sie sie Mary hinabreichte.
»Warum die plötzliche Eile?«
»Ganz da hinten liegt noch eine.« Anya streckte sich, bis sie das staubige Papier spürte. Mit den Fingerspitzen zog sie die Tüte näher heran, bis sie schließlich danach greifen konnte. Sie holte sie heraus, hustete und musste niesen. Erleichtert erkannte sie die eigene Handschrift. In großen Blockbuchstaben stand da der Name GLORIA HAVELOCK.
21
Peter Latham sprach in sein Diktiergerät. Es klang beinahe, als rezitiere er Gedichte, so rhythmisch beschrieb er die Befunde zu jedem Aspekt der Leiche.
Peter arbeitete nun schon so viele Jahre im Institut von Sydney, dass er zum Anführer der »Subkultur« des Leichenschauhauses geworden war, einer Kleinstgesellschaft, in der jedes Mitglied Aufgaben übernahm, die von den wenigsten Menschen verstanden oder gar angemessen gewürdigt wurden.
Anya Crichton hatte sich dort immer wohl gefühlt und die Einladung zum Mittagessen mit ihrem Mentor daher gerne angenommen. Selbst der Formalingeruch vermittelte ihr Geborgenheit. Diesmal lief keine Musik, was entweder bedeuten konnte, dass die Autopsien für heute erledigt waren, oder aber, dass Angehörige eines Verstorbenen erwartet wurden.
»Ah, meine Lieblingsstörerin«, rief Peter und schaltete das Gerät aus. »Ich bin gleich so weit.« Er wandte sich seinen Aufzeichnungen zu. »Die dritte Fahrerflucht diesen Monat. Polizei und Coroner brauchen den Bericht so schnell wie möglich.«
Auf dem Stahltisch lag ein totes Mädchen mit schweren Kopfverletzungen und Unterleibsquetschungen. Das rechte Bein war so gut wie abgetrennt, und ein großes Stück Knochen ragte aus der Schenkelvorderseite heraus.
Anya betrachtete das Röntgenbild am Leuchtkasten an der Wand. Das Becken war zertrümmert, ebenso der Oberschenkelknochen. Das Trauma musste schwerwiegend gewesen sein. Auf anderen Röntgenbildern war zu erkennen, dass die Bindegewebsplatten am Schädeldach noch nicht vollständig ausgebildet waren, das Kind war also noch im Wachstum begriffen gewesen.
»Wie alt?«, erkundigte sich Anya, ohne den Blick von der Schädelaufnahme zu wenden.
»Elf. Augenzeugen zufolge ist sie beim Radfahren von einem Auto mit überhöhter Geschwindigkeit erfasst worden.«
Der Schwere der Verletzungen nach musste das Fahrzeug erkennbar beschädigt sein.
»Helm?«
Peter schüttelte den Kopf und rückte sich die Brille zurecht. »Hätte sie einen getragen, läge sie jetzt nicht hier.«
Ungeachtet der Schenkel- und Beckenfraktur, das, was dem Kind das Leben gekostet hatte, waren die schweren Kopfverletzungen. Anya konnte den Schmerz der Eltern nur erahnen, und das wegen eines Zwanzigdollarhelms.
Einer der Mitarbeiter stieß die Kunststofftüren auf. »Die Angehörigen sind im Schauraum, wenn du dann so weit wärst.«
Der
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