In deinen schlimmsten Träumen: Roman (German Edition)
ein. Augenblicke später hatte sie auf einer Nostalgieseite ein altes Fernsehprogramm ausfindig gemacht. Am Mordabend vor zwanzig Jahren war um halb zwölf Uhr nachts eine Sketchshow mit dem Titel The Eleventh Hour gelaufen. Wie der Website zu entnehmen war, war die Serie bald darauf eingestellt worden und wie so viele andere gefloppte Serien in Vergessenheit geraten.
Willard hatte Recht gehabt. Und wenn er wirklich ein so atemberaubendes Fernsehgedächtnis hatte, dann erinnerte er sich vielleicht noch an irgendetwas aus der Serie. Oder war das zu viel verlangt? Sie überlegte, ob sie sich noch an irgendeinen Sketch aus einem Kabarettprogramm während ihres Studiums erinnern konnte. Die lustigsten fielen ihr wieder ein, aber etwas aus einer wöchentlichen Fernsehshow? Nur ein einziger Sketch fiel ihr ein: eine großartige Parodie auf Brains von den Thunderbirds , die in ihrer damaligen Lieblingsserie gelaufen war, der D-Generation . Vielleicht fiele Geoff Willard ja etwas Ähnliches ein.
Sie war kurz davor, Veronica anzurufen, beschloss dann aber, erst morgen mit ihr zu sprechen. Wahrscheinlich war jetzt sowieso gerade Tenniszeit, dachte sie.
»Entschuldigung, sind Sie Dr. Crichton?«
Anya drehte sich um und sah eine Frau, etwa in ihrem Alter, in Pluderhosen, einem gebatikten T-Shirt und mit Strohhut. Sie hatte die Visitenkarte dabei, die Charlie Boyd bekommen hatte. Anya überlegte, ob das die vergewaltigte Frau sein konnte, von der er gesprochen hatte.
»Ja. Kommen Sie doch bitte rauf.«
Bedächtig erklomm die Frau die Stufen und nahm den Hut ab.
»Ich bin Dell. Sergeant Boyd hat mir gesagt, dass Sie Fragen stellen. Er hat mir versichert, dass Sie auch wirklich diejenige sind, für die Sie sich ausgeben.«
Charlie war also aufs Revier gegangen und hatte ihre Angaben überprüft. Sein gutes Recht, fand Anya. Sie erläuterte ihre Aufgabe als Rechtsmedizinerin und dass es ihr darum ging herauszufinden, ob es sich um denselben Täter handelte, der in Nordwest-Sydney Frauen vergewaltigte.
»Kann ich Ihnen etwas zu essen oder trinken anbieten?« Anya fühlte sich plötzlich unwohl. Außerhalb ihrer gewohnten Umgebung hatte sie nicht den Eindruck, die Situation im Griff zu haben. Das ist keine Beratung, das ist eine Unterhaltung, schärfte sie sich ein.
»Tee. Schwach, schwarz, bitte.«
Anya setzte den Kessel auf und brühte beide Tassen mit demselben Teebeutel auf.
»Es ist so schön auf dem Balkon«, sagte sie zu ihrer Besucherin. »Sollen wir?«
Dell warf einen Blick nach innen, dann setzte sie den Hut wieder auf. »Ich bin ohnehin lieber draußen, wo Leute sind.«
Jetzt am späten Nachmittag war der Strand dicht bevölkert. Die beiden Frauen saßen eine Weile schweigend da und sahen den Wellen zu.
Dell hielt die Tasse mit beiden Händen und sah angestrengt hinein. »Haben Sie mit vielen Vergewaltigungsopfern zu tun?«
»Mit zu vielen.«
»Wie reagieren die darauf, dass sie das haben durchmachen müssen?«
Anya trank einen Schluck. »Unterschiedlich. Jede ist anders. Manche sind unmittelbar danach ganz ruhig, andere außer sich und verletzlich. Es macht auch einen Unterschied, ob sie den Täter kannten oder nicht. Aber jede durchläuft einen Trauerprozess.« Dampf schwebte über der Oberfläche des Tees. »Es dauert lange, bis alles verheilt ist.«
»Bei mir hat es Jahre gedauert. Und manchmal sehe ich immer noch Bilder dieser Nacht vor mir.«
»Sind Sie in Therapie gewesen?«
Dell kräuselte die Oberlippe. »Hier doch nicht. Damals hielten sich die meisten Therapeutinnen und Sozialarbeiterinnen für Radikalemanzen, die sich aus nichts ihren eigenen Markt geschaffen haben. Da heißt es einfach, Augen zu und durch.«
»Das war sicher sehr schwer. Sie müssen noch jung gewesen sein.«
Dell schaute aufs Meer. »Wahrscheinlich wäre es noch schwerer gewesen, wenn ich es den Leuten erzählt hätte. Damals dachte man, eine Vergewaltigung, das heißt, du hast einen Jungen angemacht und es dir dann, als es zu spät war, anders überlegt. Vergessen Sie nicht, dass wir hier im Grunde in einem Bergarbeiterdorf leben. Nickel Bay müsste es heißen, das wäre der passendere Name.«
Auf der Herfahrt hatte Anya die Wegweiser zur Nickelmine gesehen. »Also haben die meisten Männer im Bergwerk gearbeitet?«
»Es gab hier schon immer wenige Einheimische und eine große Mehrheit von Wanderarbeitern. Dank der Schichtarbeit konnten die Männer an ihren freien Tagen Wellenreiten gehen.«
Die Brise frischte auf und
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