In deinen schlimmsten Träumen: Roman (German Edition)
hätte Dell fast den Hut vom Kopf geweht. Anya betrachtete sie, die so gefasst von der Vergangenheit erzählte. Sie hatte lange Finger und vereinzelte Farbspritzer auf ihrem T-Shirt und um ihren Ehering herum.
»Damals kam es hin und wieder zu Vergewaltigungen, aber die Polizei hat immer die Saison-Bergarbeiter beschuldigt, nie die Einheimischen. Als ich wegen der Vergewaltigung bei Charlie Boyd war, hat er mir versprochen, er knöpft sich Geoff Willard in seiner Freizeit mal vor, inoffiziell natürlich.«
Ein besserer Zeitpunkt, um über die Vorfälle jener Nacht zu sprechen, würde sich wohl kaum ergeben. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Ihnen ein paar Fragen zu der Tat stelle? Wie es ablief?«
Dell holte tief Luft, so als hätte sie diesen Moment lange vor sich hergeschoben.
»Es war ein paar Wochen, bevor Eileen ermordet wurde. Ich hatte an diesem Abend bei einer Freundin Musik gehört und war auf dem Weg nach Hause. Es muss so gegen halb zehn gewesen sein. Ich weiß noch, dass ich immer um zehn Uhr daheim sein musste, wenn am nächsten Tag Schule war. Plötzlich schlägt mich einer zu Boden und liegt auf mir drauf. Er hat mir den Pulli über den Kopf gezogen, so dass ich ihn nicht richtig sehen konnte, aber er hat dauernd so Sachen gesagt. Dass er weiß, dass ich es auch will, zum Beispiel. Dass er mich beobachtet hat. Nach allem, was ich gelesen habe, sagen wohl die meisten so etwas.« Sie hielt die Tasse mit beiden Händen fest. »Er hatte Schwierigkeiten mit seiner Erektion und hat fester gesto ßen und mir vorgehalten, dass es meine Schuld wäre.«
»Hat er Sie geschlagen?«
»Nein, aber er hat ziemlich fest zugestoßen. Ich habe ihm gesagt, dass er mir wehtut, und ihn angefleht, er soll aufhören, aber es hat nichts genützt.« Sie ließ den Kopf sinken. »Ich war keine Jungfrau mehr, aber es hat trotzdem wehgetan.«
Anya schüttelte den Kopf. Selbst Frauen verbreiteten das Märchen, eine Vergewaltigung sei für Nicht-Jungfrauen weniger schmerzvoll und traumatisierend. Eine der schlimmsten Vergewaltigungen, mit denen sie zu tun gehabt hatte, war die einer Prostituierten durch einen Freier gewesen.
»Was geschah dann?«
»Er ist von mir runter und hat gesagt, wenn ich auch nur ein Wort zu irgendjemandem sage, dann bringt er mich um. Er hat mir befohlen, mich nicht zu rühren, und dann war er weg.« Sie holte noch einmal tief Luft. »Ich hatte solche Angst. Ich habe es Mum erzählt, aber sie wollte nicht, dass Dad etwas davon erfährt. Sie hat gesagt, er hat schon genug Stress in der Arbeit. Ich bin ein paar Tage im Bett geblieben, und Mum hat allen gesagt, ich hätte einen Katarrh. Und dann habe ich mich einfach dran gewöhnt, es niemandem zu erzählen. Der Einzige, der davon weiß, ist Sergeant Boyd. Ihm habe ich es vor Eileens Beerdigung gesagt.«
Instinktiv legte Anya ihr die Hand auf den Unterarm. Nach zwanzig Jahren war diese Frau endlich in der Lage, jemandem ihre Geschichte zu erzählen, ohne fürchten zu müssen, dass man ihr die Schuld an dem Geschehenen gab.
Etwas aber ließ Anya an Dells Geschichte keine Ruhe. »Sie haben das Gesicht des Angreifers nicht gesehen, aber Charlie Boyd sagte, Sie hätten Geoff Willard als den Täter identifiziert.«
»Ich wusste, dass Geoff es war, als ich ihn wegen dem Mord an Eileen in den Nachrichten sah.« Sie stellte die Tasse auf den Tisch. »Wahrscheinlich hatte ich einfach Glück.«
»Konnten Sie seine Hände sehen, hatte er da vielleicht ein Mal?«
»Tut mir leid, aber ich habe nichts gesehen.«
»Hat er zufällig etwas über Liebe und Schmerz zu Ihnen gesagt?«
»Nein. Das war alles.«
»Falls Ihnen noch irgendetwas zu dieser Nacht einfällt, ganz egal, was, dann rufen Sie mich bitte an. Es ist sehr wichtig.«
Dell stand auf und schüttelte Anya die Hand. »Danke, dass Sie mir zugehört haben. Ich weiß, es liegt schon lange zurück, aber es ist ein gutes Gefühl, wenn einem endlich Glauben geschenkt wird.«
Anya wurde klar, dass diese Unterhaltung nicht wie befürchtet alte Schmerzen wieder aufgerührt, sondern vielmehr eine kathartische Wirkung gehabt hatte. Mehr als die Hälfte ihres Lebens hatte Dell ein schmerzliches Geheimnis gehütet. Vielleicht gelang es ihr nun, wenigstens ein Stück weit Frieden zu finden.
Andererseits aber, sollte Geoff Willard den Mord nicht begangen haben und auch die Vergewaltigung nicht, dann würde die Sicherheit, in der dieses Städtchen und Opfer wie Dell sich wähnten, grundlegend ins Wanken
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