In deinen schlimmsten Träumen: Roman (German Edition)
der Geldbörse und schrieb Telefonnummer und Adresse der Strandhütte auf die Rückseite.
»Ich hab’s ja schon immer gesagt, wir brauchen die Todesstrafe.« Charlie Boyd wischte sich die Hand an seinem Hemd ab und nahm die Karte. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Anya verließ den Pier, und als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie den Weihnachtsmann mit dem Handy telefonieren. Dann packte er seine Sachen in den Flechtkorb, sammelte Angel und Klappstuhl ein und nahm die Abkürzung quer über den Parkplatz des Pubs zum Polizeirevier.
29
Bill Lalor hauste in einer baufälligen Baracke, in deren Briefkasten er seinen Namen eingeritzt hatte. Der Strand lag in einer geschützten Bucht, in der Familien sich tummelten, ahnungslos, was Eileen Randall vor so vielen Jahren widerfahren war. Anya klopfte an ein Stück nicht abgeplatzter Farbe an der Tür. Sie wollte gerade wieder gehen, als diese sich knarzend öffnete.
Vor ihr stand ein kleiner, kahler Mann mit nacktem Oberkörper und in Pyjamahose.
»Ich suche Bill Lalor. Den Gezeitenspezialisten.«
»Der bin ich.« Er grinste und kratzte sich die silberhaarige Brust.
»Charlie Boyd schickt mich.«
Er seufzte. »Wenn Sie nur gekommen sind, weil Sie sich über mich lustig machen wollen, können Sie mich mal. Der Exzentriker vom Dienst hat heute frei.« Er wollte die Tür bereits wieder schließen.
Anya streckte die Hand aus. »Nein, ich brauche Ihren fachmännischen Rat.« Mit einem Blick auf seine Kleidung meinte Anya: »Wenn ich ungelegen komme, kann ich gerne später wieder vorbeischauen.«
»Wie kommen Sie darauf?«, wollte er wissen und rubbelte sich das unrasierte Kinn. »Immer rein mit Ihnen, nur zu.«
Anya streifte sich die Schuhe auf der Strohmatte ab. »Angeblich haben Sie Aufzeichnungen über jede Ebbe und Flut der letzten vierzig Jahre in dieser Gegend.«
»Worauf Sie einen lassen können.«
»Sie müssen ein echter Fachmann sein.«
Bill Lalor grinste. Drei seiner Schneidezähne fehlten.
»Es geht mir um einen ganz bestimmten Tag von vor zwanzig Jahren.«
Seine hellgrauen Augen flatterten. »Wenn es um die Nacht geht, in der Eileen Randall starb, habe ich nichts zu sagen.«
Anya sah ein, dass er keine Lust hatte, sich mit Fremden zu unterhalten, hoffte aber doch, er würde seine Theorien, was diese Nacht anging, bereitwillig offenbaren.
»Mir ist bewusst, dass Ihnen bisher niemand Gehör geschenkt hat. Ich interessiere mich für den Gezeitenstand in dieser Nacht und dafür, weshalb Sie der Ansicht sind, dass die Polizei sich irrte.«
Er kratzte sich am Hinterkopf. »Ich hab Morddrohungen gekriegt, nachdem ich bei der Polizei gewesen bin. Mein altes Haus haben sie mir abgefackelt.«
Anya erklärte: »Ich überprüfe den Fall. Wenn also irgendjemand Angst vor Repressionen haben sollte, dann ich.«
»Ich will nicht, dass mein Name irgendwo auftaucht. Ist das klar?«
»Vollkommen. Ich werde mir alle Angaben von dritter Seite bestätigen lassen.«
Aus der Tür drang ein Zwitschern und das Klingeln eines Glöckchens. Sie folgte dem alten Mann durch einen mit Linoleum ausgelegten Flur in ein Hinterzimmer voller Farne. Eine weiße Langhaarkatze saß auf einer Sessellehne und streckte die Pfoten nach dem Vogelkäfig aus.
»Runter da, Snowie«, sagte er und räumte den Sessel für den Gast. Mit bimmelndem Glöckchen machte die übergewichtige Snowie sich griesgrämig von dannen.
Dann verschwand Bill. Anya stand im Zimmer und betrachtete den Vogel, bis Bill mit etlichen zusammengerollten Karten zurückkehrte.
Er legte sie auf die Papierstapel auf dem Küchentisch und bat Anya, sie an der Seite herunterzudrücken. Sie tat es.
»Ich hab Kopien gemacht, nach dieser Nacht. Für die Polizei, aber die hat sie nicht gewollt. Deswegen hatte ich sie nicht im Haus, als es abbrannte.«
Anya fragte sich, wie viele Menschen wohl sonst noch von Eileen Randalls Tod in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Schnurrend rieb sich die Katze an ihren Beinen.
»Wegen der Gezeiten kann Geoff Willard die Kleine unmöglich zu der Zeit umgebracht haben, wie die meinen. Schauen Sie hier, Flut in der Bai war um null Uhr dreiundvierzig, aber in der Bucht muss die Kleine früher gelegen haben.«
Anya konnte nicht folgen.
»Der Wind, Mädchen, der Wind. Der Experte, den die konsultiert haben, hat ihn nicht eingerechnet. Wir sind hier in einer geschützten Bucht. Und deswegen hat er sich locker um zwei Stunden vertan.« Er hielt inne und schien darauf zu warten, dass
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