In deinen schlimmsten Träumen: Roman (German Edition)
sich für ihre Mandanten einsetzen. Es stimmt mich traurig zu erfahren, dass Kollegen, die Seite an Seite mit mir gearbeitet haben, dabei gleichzeitig meine Autorität untergraben und mich des Schlimmsten bezichtigt haben, dessen man einen Arzt bezichtigen kann – der Fahrlässigkeit.«
Morgan Tully unterbrach ihn. »Das sind nicht die Prozesse von Salem. Sie wurden nicht geladen, um gegen etwaige Anschuldigungen Stellung zu nehmen, Dr. Carney. Seien Sie versichert, dass wir nur Ihr Bestes wollen.«
Zum ersten Mal ergriff Peter Latham das Wort. »Wir alle müssen uns der Supervision durch Kollegen und einer Qualitätskontrolle unterziehen. Keiner von uns ist gegen Fehler gefeit, und das ist auch gut so. Wenn wir auch nicht zum Wohl lebender Patienten handeln, so ist es doch zwingend notwendig, dass wir alle uns nach denselben Standards richten.«
Alf Carney nahm die Brille ab. »Gut, dann sprechen wir also über den professionellen Standard. Als ich Hausarzt in der Provinz Victoria war, gab es im Umkreis von fünfhundert Meilen nicht einen Einzigen, der bereit war, rechtsmedizinische Aufgaben für die Polizei zu übernehmen. Nicht ein einziger Angehöriger unserer noblen Profession war dazu bereit. Wenn irgendwo mitten in der tiefsten Wildnis ein junges Mädchen vergewaltigt und ermordet wurde, dann stand die Polizei ohne Autopsiebericht absolut hilflos da. Also habe ich Idiot ihn eben aus Pflichtgefühl erstellt. Und bevor ich weiß, wie mir geschieht, vernachlässige ich meine Praxis, weil ich plötzlich der Polizeichirurg, der Distriktspathologe und alles, was die Gesellschaft sonst noch gerade braucht, bin. Ich habe eine Rolle übernommen, die niemand haben wollte.«
Er richtete sich an alle fünf Anwesenden. »Damals war Pathologie nicht in , nicht so wie heute. Es war eine Art makabrer Geheimzirkel, den die Wähler nicht brauchten und von dem sie nichts wissen wollten.« Er massierte sich den Nasenrücken. »Nicht mal zum Essen wurde man mehr eingeladen.«
Morgan Tully blieb unbeeindruckt. »Wir sind nicht hier, um uns über Ihren Berufseinstieg zu unterhalten. Uns geht es um die gegenwärtige wissenschaftliche Arbeit.«
Carney schoss das Blut ins Gesicht, und die Sommersprossen in seinem rötlichen Teint leuchteten auf. Die Adern an seinem Hals schwollen an.
»Als Landarzt habe ich mitgeholfen, die Leichen zu bergen. Musste Kinder, die ich ihr halbes Leben kannte, aus Wracks ziehen oder mit ansehen, wie sie von landwirtschaftlichen Maschinen zerstückelt wurden.«
Er zeigte mit beiden Händen auf sein Brustbein und sprach mit praktisch aufeinandergebissenen Zähnen. Er konnte seine Emotionen und seinen Schmerz nicht verbergen, und Anya wäre am liebsten aus dem Raum geflohen. Seine Karriere war zu Ende, und er wusste es.
» Ich musste versuchen, die zertrümmerten Leiber ins Leben zurückzuholen und dann den Eltern die schlimme Nachricht überbringen. Und die Scheißautopsie durfte dann auch noch ich machen. Es gab keinen Assistenten, der bei der Drecksarbeit geholfen hätte, keinen, mit dem ich mir die Bereitschaftsdienste hätte teilen können. Keinen, mit dem man über einen Fall diskutieren konnte. Keine Nachbesprechungen und niemanden, der mich gefragt hätte, wie es mir nach einem Begräbnis geht.« Er fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn. »Also erzählt mir bloß nichts über Standards. Ich hab mir den Arsch aufgerissen und mich fortgebildet, damit ich die beste überhaupt mögliche Arbeit abliefern konnte. Wo waren denn die Mitglieder des Colleges, als ich Unterstützung oder ein wenig Urlaub brauchte? Die hockten alle schön brav auf ihren fetten Ärschen in der Stadt.«
Seth Myer rutschte auf dem Stuhl herum. »Damals hatten wir es alle nicht leicht. Aber die Zeiten haben sich geändert, und wir mussten uns anpassen. Heute muss alles, was wir tun, wissenschaftlich abgesichert sein. Wir stehen stärker in der Verantwortung als je zuvor.«
»Also darum geht’s«, sagte Carney. »Ich bin zu alt, und man schiebt mich aufs Abstellgleis. Raus mit den alten Idioten, damit Platz für die Neuen ist.«
»Das ist es nicht«, brach Peter Latham sein Schweigen. »Niemand will in Abrede stellen, dass du mit staunenswertem Engagement dringendst benötigte Arbeit erbracht hast. Aber eine permanente Weiterbildung ist einfach unerlässlich, und es gibt Anlass zur Befürchtung, du seist nicht immer auf dem derzeit neuesten Stand.«
»Von dir hätte ich das nicht erwartet.« Carney stand auf.
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