In deiner Hand
ging eine merkwürdige Anziehung von ihm aus. Es herrschte tiefste Nacht. Nur das Rauschen der Blätter hoch über mir war zu hören. Meine Fingerspitzen strichen über die lädierte Baumrinde. Langsam beugte ich mich vor, senkte die Stirn gegen den Stamm und atmete tief ein.
„Was mach ich nur …“, flüsterte ich und stand kurz davor erneut in Tränen auszubrechen.
„Du weißt, was du zu tun hast“, murmelte es aus der Dunkelheit. Komisch dass ich nicht einmal mehr zusammenzuckte. Taylor trat geräuschlos neben mich. Durch den schwachen Lichtschein des Küchenfensters sah er aus, wie ein weiterer, riesiger Baum.
„Ich will aber nicht sterben“ Diese Worte waren mehr gehaucht als alles andere. Natürlich verstand er mich trotzdem. „Du wirst es … früher oder später. Du solltest aufhören dich irgendwelchen Illusionen hinzugeben. Malik wird dich töten, das steht fest. Es braucht nur einen von uns, der überhitzt reagiert und nicht aufpasst … der uns alle in Gefahr bringt …“ Der Wurstkopf sagte das mit einer solchen Wut, dass ich überrascht den Kopf hob.
„Du kannst ihn wirklich nicht leiden“, stellte ich überrascht fest. Dabei hatte ich das Abfeuern der Pistolenkugel auf Brian als einen Joke unter Unsterblichen verstanden. Wobei die Kugel ja eigentlich für mich bestimmt gewesen war.
Der Riese reagierte nicht. Ich versuchte ihm in die Augen zu sehen. „Warum nicht? Was ist passiert?“ Wieder schwieg er und meine Neugierde wurde dadurch nur noch mehr entfacht. Nach einer kleinen Weile war ich mir gar nicht mal mehr so sicher, auch wirklich einen Blutsauger anzusehen. Bestimmt glotzte ich gerade voll doof auf einen Baum und der Idiot lachte sich irgendwo hinter mir ins Fäustchen.
In den dunklen Schemen neben mir kam dann doch etwas wie Bewegung. Es sah aus als verlagerte er gerade das Gewicht von einem Bein auf das andere und in der Finsternis blitzten ganz kurz seine Augen auf.
„Ich hasse ihn“, spie er aus und ich spürte ihn an mir vorbeigehen.
„Warum?“, rief ich ihm nach.
„Er hat meinen Bruder getötet!“
„Er hat was?“, schnappte ich entsetzt nach Luft.
„Das was er am besten kann … voreilige Entscheidungen treffen!“
Ich stand noch eine Weile im Garten herum, dachte über Brian nach und stellte fest, dass mich die Sache mit ihm und Taylor ziemlich wurmte. Der Wurstkopf hatte sich aus dem Staub gemacht, bevor ich irgendeine weitere Frage stellen konnte. Dass er nicht darüber reden wollte, erkannte auch jemand wie ich.
Wie krass! Brian hatte seinen Bruder ermordet. Ich konnte es einfach nicht fassen.
„Verry?“
Wie von der Tarantel gestochen fuhr ich herum. Mein Herz hüpfte vor Schreck fast aus der Brust. Henriette stand auf der Terasse, den gelben Ball schützend an die Brust gedrückt und sah mich mit großen Augen an.
„Mein Gott hast du mich erschreckt“, keuchte ich und schloss kurz die Augen. Als ich sie öffnete war die Kleine verschwunden. Irritiert sah ich mich um.
„Verry?“, ertönte es dicht hinter mir. Blitzschnell wirbelte ich herum und spähte aus zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit.
„Was soll der Blödsinn?“, fauchte ich. „Solltest du nicht längst im Bett sein?“
Was für ein blödes Blag! Wo steckten bloß die Eltern?
Ihre winzige Silhouette schälte sich aus der Dunkelheit. Ganz langsam trat sie auf mich zu, den unschuldigen Blick eines neugeborenen Rehkitz in den Augen. Sie blinzelte mehrmals und begann zu schniefen.
„Hast du ihn denn nicht lieb?“, wollte sie wissen.
„Hä? Wovon redest du?“
Einem inneren Instinkt folgend nahm ich Abstand von ihr. Irgendetwas an dieser Kleinen gefiel mir gar nicht. Ich ärgerte mich tierisch darüber, dass ich mich zu fragen begann, wo Taylor sich rumtrieb. Klar käme ich prima ohne diesen doofen Blutsauger zurecht. Ich brauchte die nicht, keinen von denen. In Zukunft würde ich all meine Probleme allein lösen. Und Henriette durfte das Paradebeispiel sein.
„Hör mal, Kurze. Ich bin müde. Geh nach Hause! Deine Eltern suchen dich bestimmt schon.“
„Meine Eltern sind tot.“
„Oh … das … das tut mir leid“, stammelte ich betreten und räusperte mich.
Mir fiel auf, dass Henriette noch immer das gleiche Kleid trug. Für ein kleines Kind war sie ganz schön sauber. Im schwachen Licht, das aus der Küche in den Garten fiel, erkannte ich jedenfalls keinen Schmutz an ihrer Kleidung.
„Ich erinnere mich gar nicht mehr an sie.“ Sie zuckte mit den Schultern und knetete ihren Ball.
Weitere Kostenlose Bücher