In deiner Hand
ihn doch sowieso loswerden! „Aaaargh! Da blickt doch keine Sau durch!“, grummelte ich in die Bettdecke. Das einzige Argument, das mir einfiel, war die Tatsache, dass Malik jetzt neben Haiss am Krankenbett saß und dabei zusah, wie dieser elendig verreckte. Ja. Das traute ich Malik zu. Vermutlich beugte er sich gerade über Haiss entstelltes Gesicht und schnupperte an all dem vergossenen Blut, erzählte ihm, dass er es nun einmal verdient hatte, dass ihm hätte klar sein müssen, dass man sein Spielzeug nicht gefährdete. Ganz automatisch biss ich die Zähne zusammen und ballte die Hände.
„Linda“, stöhnte ich. „Scheiße!“ Natürlich! Wieso war ich nicht gleich darauf gekommen? Jetzt ergab ihr Auftreten Sinn. Sie gehörte ebenfalls zu Malik! Es musste so sein! Anders konnte ich mir ihr Verhalten einfach nicht erklären. Linda gehörte zu ihm, genau wie Haiss. Allerdings war sie ein Mensch, da war ich mir ganz sicher. Sie war viel zu warm gewesen, viel zu weich. Wenn Linda zu ihm gehörte, wer noch? Rex womöglich? Oder der Coach? Vielleicht sogar weitere Schüler? Wen hatte Malik alles in die Schule geschleust, um mich zu überwachen? Und was würde jetzt geschehen? Welche Schritte würde Malik als nächstes machen? Würde er sich Mum holen? Noch heute Nacht? Sofort riss ich die Augen auf und lauschte. Geschirr klapperte in der Küche. Ich musste lächeln. Immer wenn sie versuchte leise zu sein, gelang ihr das nicht, nie! Vielleicht sollte ich runtergehen und ihr Gesellschaft leisten? Viel zu schnell war ich vorhin abgezischt, dabei war jede Minute mit ihr kostbar. Jeden Augenblick sollte ich genießen, sollte mich daran erfreuen, dass es ihr gut ging. Mich wunderte jedes Mal von Neuem, dass man ihr all die Qualen, die sie als Jugendliche durchgemacht hatte, nicht ansah. Keine Falte wies darauf hin, dass sie gekämpft und beinahe verloren hatte. Nichts in dem hübschen Gesicht erzählte ihre grauenvolle Geschichte – auch nicht die schmalen Hände, mit den schlanken, hübsch manikürten Fingern oder ihre zierlichen Füße. Von ihrer schrecklichen Kindheit war nichts geblieben, als hätte sie sie mit einem Schulterzucken abgestreift wie einen hässlichen Mantel. Dabei war ihr Leben nie so einfach gewesen, als dass man einfach darüber hinweg sehen konnte. Ihre Eltern hatten sie rausgeworfen als sie erfuhren, dass sie mit mir schwanger war. Ein dreizehnjähriges junges Ding, ohne ein Dach über dem Kopf, das sich einfach nur nach Geborgenheit sehnte, nach Wärme und Liebe. Nichts hatte sie sich mehr gewünscht, nichts hatte sie sehnsüchtiger willkommen geheißen. Sie stolperte von einer Beziehung in die nächste, immer darauf bedacht, sich selbst die Schuld am Scheitern dieser zu geben. Dabei war ich der Grund, wieso sie niemand haben wollte, wieso man sie abschob und ihr keinen Job anbot. Ich war der Grund für den fehlenden Schulabschluss, der Grund für all ihre unerfüllten Wünsche. Granny und ihr Mann nahmen uns damals auf. Zwei alte, klapprige Tattergreise mit einem großen Herzen und sehr viel Verständnis für unsere Situation. Nie machten sie Mum Vorwürfe, niemals warf man ihr ihre Naivität und Dummheit vor. Und dann lernte Mum ihren ersten Mann kennen. Es ging bergauf, für uns beide. Er zog mit uns nach Washington, weit weg von Granny. Doch sie verstand es, wusste, dass es für Mum Zeit wurde endlich ihre eigenen Wünsche in den Vordergrund zu stellen, endlich erwachsen zu werden und Erfahrungen zu sammeln. Rausgerissen aus Grandmas sicherer Obhut, wartete auf uns nur der schwarze Abgrund. Ihr Mann schlug sie. Erst rutschte ihm die Hand versehentlich aus, dann fand er immer einen anderen Grund sie mit der Faust zu traktieren – meist meinetwegen. Mum zog den Kopf nie ein. Wie eine Kriegerin stand sie da, mit durchgedrücktem Rücken und blickte jedem seiner Schläge mit tapferer Miene entgegen. Denn sie wusste, danach würde er sich entschuldigen, ihr seine unendliche Liebe gestehen und versprechen, dass es das letzte Mal gewesen sei. Mum war einfach zu gutgläubig und ich zu schwach, zu klein – gerade mal acht Jahre jung. Mir wurde erst bewusst, dass er sie nicht nur äußerlich zerbrach, als ich sie mit einem Messer in der Hand in der Küche stehen sah. Mum hatte damals mit Tränen in den Augen gelächelt und mir zugeflüstert, dass alles gut werden würde. Wiederkommen wolle sie, stark und unbesiegbar. Dass sie mich dafür aber verlassen müsse. Nicht lange, versprach sie und
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