Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

In Den Armen Der Finsternis

Titel: In Den Armen Der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
Vom Netzwerk:
Cowboystiefel.
    Sie war Chinesin, aber keine reinblütige Asiatin. Kurzes, schwarzes Haar umrahmte ein faszinierendes Gesicht, das mit Sommersprossen gesprenkelt war. An ihrem pinkfarbenen Haarreif waren kleine Metalldrähte befestigt, die wie die Fühler eines Aliens aussahen und an deren Ende kleine Herzchen steckten. Sie hielt ein Mikrofon in der Hand und sang zu Alison Krauss. Es gelang ihr zwar keine Sekunde, die richtigen Töne zu treffen, aber das schien niemanden zu stören.
    »Wow«, meinte Grant. »Du solltest sehen, was ich sehe.«
    »Komm ja nicht auf komische Ideen«, erwiderte ich. »Ich sehe schon mehr als genug.«
    Hinter der Bar stand niemand, der Drinks hätte servieren können, und als eine der Kellnerinnen auf einen freien Tisch deutete, schüttelten wir die Köpfe. Ich stand so, dass ich die Eingangstür im Auge behalten konnte. Zee beobachtete mich aus dem Schatten unter der Garderobe und verschwand. Rohw und Aaz hockten hinter einem Gurkenfass, das nur zur Dekoration diente, tranken Bier und kratzen sich ihre Bäuche. Sie trugen wieder Baseballcaps, diesmal von den Red Sox.

    Grant berührte meinen Ellenbogen. Ich blickte wieder zur Bar hinüber. Die Frau sang zwar immer noch, sah uns jetzt jedoch auch an. Sie runzelte ganz leicht die Stirn und neigte den Kopf fast unmerklich nach links. Ich sah nach rechts, bemerkte einen dunklen Flur und blickte Grant an.
    »Vater Lawrence hat interessante Freunde«, meinte ich.
    »Vater Lawrence ist nicht mehr der Mann, der er einmal war«, gab Grant zurück und setzte sich humpelnd in Richtung Flur in Bewegung. Wir entfernten uns von der Bar und dieser schrecklichen, misstönenden Stimme, die ins Mikrofon hauchte. »Nicht dass ich mich beschweren wollte.«
    »Kanntest du ihn gut?« Vor uns hörte ich das Klirren von Geschirr, und im nächsten Moment stieß eine Kellnerin eine Tür auf. Sie trug ein Tablett mit Brezeln.
    »Nicht gut genug«, murmelte Grant und ging an der Küche vorbei. Am Ende des Flurs befand sich eine Tür, vorher aber kam noch ein Waschraum. Ich packte seinen Ellenbogen. Er nickte und wollte schon die Herrentoilette betreten, aber im letzten Moment zog ich ihn noch zurück. Ich zwang ihn, mir auf die Damentoilette zu folgen - und hatte Angst, ihn aus den Augen zu lassen.
    Wir waren allein. In meiner Kabine stank es, außerdem gab es kein Toilettenpapier. Als ich fertig war und herauskam, stand Grant bereits am Waschbecken und starrte in sein Spiegelbild. Ich trat neben ihn und betrachtete mein Gesicht im Spiegel.
    Ich war sechsundzwanzig Jahre alt, aber einen Moment lang konnte ich mich als Vierzigjährige sehen. Auf meiner Stirn bildete sich bereits eine Falte, ich wirkte müde und schmutzig, mein schwarzes Haar war verfilzt und fettig - vom Stress. Unter meinen Augen lagen tiefe Schatten.
    Meine Haut hatte nie die Sonne gesehen. Nur mein Gesicht
hatte etwas Farbe abbekommen, aber die war auch schon lange weg, und meine Blässe ließ mich krank und erschöpft aussehen. Grant ging es nicht viel besser. Sein Gesicht wirkte hager und leidend - in seinen Augen lag immer noch eine Spur von Trauer. Vielleicht hatte er sogar ein paar graue Haarsträhnen mehr bekommen. Wir alterten über Nacht, einfach nur durch das Trauma des Lebens.
    Wir betrachteten uns beide zusammen. Seine breiten Schultern füllten den ganzen Spiegel aus, während ich hinter ihm stand und meine Wange an seinen Arm drückte. Unsere Blicke trafen sich im Spiegel.
    »Hey, Schöne«, murmelte Grant. »Schon bereit für den Grand Canyon?«
    Ich versuchte zu lächeln, seinetwegen, aber meine Lippen weigerten sich mitzumachen. Grant wandte sich mir zu, glitt mit seiner kräftigen Hand und seinem Arm meinen Rücken hoch und drückte mich an seine warme Brust, die nach Zimt und dem Zedernholz eines alten Waldes roch. Ich legte meine Wange an sein Hemd, umklammerte mit einer Hand den weichen Flanell und lauschte dem rumpelnden Pulsieren seines Herzens.
    Dann bemerkte ich etwas Hartes unter meiner Wange. Ich trat zurück, betrachtete seinen Hals und sah eine Goldkette, die ich schon kannte und deren Glieder gerade so aus dem Ausschnitt seines T-Shirts herauslugten. Ich streckte die Hand aus und strich mit den Fingern über die weichen, dicken Glieder. Doch Grant fasste mein Handgelenk und hinderte mich daran, das Medaillon herauszuziehen.
    »Ich hielt es für wichtig, die Kette mitzubringen«, sagte er unsicher.
    Ich öffnete den Reißverschluss meiner Lederjacke und ließ
die

Weitere Kostenlose Bücher