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In Den Armen Der Finsternis

Titel: In Den Armen Der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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Feststellung.
    »Fünf Minuten«, antwortete ich und lehnte mich an den Tresen. Die Spitze meines abgeschabten Cowboystiefels stieß gegen die Spitze eines genauso schmutzigen Tennisschuhs. »Entschuldige.«
    »Schon okay. Ich wusste, dass du hier sein würdest.« Die
Worte wurden in demselben sachlichen Tonfall geäußert, voller Vertrauen. Es war ein seltenes Kompliment, das mir erschreckend vertraut klang. Dazu war es eins, bei dem mein Herz einen merkwürdigen kleinen Satz tat. Meiner Mutter hätte das nicht gefallen.
    Der Junge vor mir war jung, höchstens fünfzehn. Byron. Kein Familienname. Und das war vielleicht nicht einmal sein echter Name. Er stellte ein Mysterium dar, und zwar in mehr als einer Weise. Er war spindeldürr, hatte schwarzes, stacheliges Haar, das ein blasses, zartes Gesicht umrahmte. Er war ein zähes, süßes Kind, auf diese ruhige Art, die häufig von den Menschen unterschätzt wurde. Er prahlte nicht, war auch nicht charmant, besaß aber ein Rückgrat aus purer Intelligenz. Er hatte auf der Straße gelebt, war dort missbraucht worden und gewöhnte sich nur langsam an ein Dach über seinem Kopf. An regelmäßige Mahlzeiten. Oder an Toilettenpapier. Und an ein Schloss in seiner Tür.
    Er trug Jeans und ein weites, langärmliges graues Hemd, das an seinen knochigen Handgelenken ausfranste. Darüber eine fleckige weiße Schürze, die mit roten Lippen bedruckt war, als hätte ihn irgendeine gigantische Frau mit zu viel Lippenstift über und über geküsst. Byron hasste dieses Kleidungsstück, wie jeder Teenager, der etwas auf sich hielt. Aber die anderen Küchenhelfer liebten es, ihn darin zu sehen. Der Junge war überraschend höflich - oder aber nachvollziehbar eingeschüchtert - und hütete sich, einer ganzen Armee von Frauen zu widersprechen.
    Er hatte eine gefaltete Zeitung in der Hand, die er jetzt auf den Tresen legte. Die Schlagzeilen waren nicht weiter interessant, bis auf einen kleinen Artikel, der mit den Worten überschrieben war: MONSTER ODERJUX? IN PARIS GESICHTET.

    Ich beugte mich vor, weil ich viel zu empfänglich für seltsame Nachrichten war, um irgendetwas von vornherein abzulehnen. Aber in diesem Artikel, der in einem ungläubigen Unterton verfasst war, stand nur, dass irgendeine Frau behauptete, von einem sehr haarigen Mann mit extrem langen und spitzen Zähnen gebissen worden zu sein, der sich anschließend überschwänglich entschuldigt hätte und schluchzend davongelaufen sei. Das war nicht gerade das, was ich ein Zeichen für dämonische Aktivität nennen würde.
    Ich hob eine Braue. »Ich hab dir doch gesagt, dass du nicht mit haarigen Fremden reden sollst, oder?«
    »Eindeutig haarig«, erwiderte Byron. Aber der Anflug eines seltenen Lächelns zeichnete sich auf seinem Gesicht ab - und fast hätte ich zurückgelächelt.
    »Also, bist du fertig geworden?«, fragte ich und biss noch einmal von dem Muffin ab. Ich versuchte, nicht an das tote Mädchen zu denken, als ich ihm ins Gesicht sah. Sie war in seinem Alter gewesen. Vor einiger Zeit hätte es noch Byron sein können, der da tot in dieser Gasse lag. Allmählich bedauerte ich, dass ich Archie Limbaud hatte laufen lassen. Ich hatte zwar den Dämon getötet, der für den Tod des Mädchens verantwortlich gewesen war, aber irgendwie erschien mir das nicht ausreichend zu sein.
    Du darfst niemals den Wirten die Schuld geben , flüsterte meine Mutter in meiner Erinnerung. Nicht einmal für die Schwäche, dass sie den Dämon hereingelassen haben. Wir sind alle schwach, Baby. Nur auf unterschiedliche Arten.
    Byron runzelte die Stirn. »Womit? Mit Mathematik oder mit Schopenhauer?«
    Ich gab ihm einen Muffin und zwang mich zu atmen. »Mit beidem.«

    Er zupfte mit einem schmutzigen Fingernagel an der Zeitungsbanderole. »Ich hab die Algebra-Aufgaben auf Grants Schreibtisch gelegt. Und ich habe auch die Seiten gelesen, die du mir gegeben hast.«
    »Und?«
    »Und ich bin nicht im College«, antwortete er, obwohl er weit älter und erheblich reifer klang, als die meisten Studenten, von denen er vor gar nicht allzu langer Zeit noch Geld erbettelt hatte. »Deutsche Philosophen sind irgendwie unverständlich.«
    »Du bist aber klug«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass ich ihn damit sehr forderte; aber ich wusste auch, dass er es ertragen konnte. »Sag mir, was du gelesen hast.«
    Byron rieb sich die Nase. »Irgend so ein Zeug. Realität ist eine Illusion. Begehren und Instinkt dagegen ist etwas Dingliches.«
    »Gut.« Ich

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