In Den Armen Der Finsternis
Sicherheit gab es nicht mehr.
Vorsichtig tastete ich mich über den schmalen Pfad, während ich mit den Beinen die Rückseiten der Bücher berührte. Die Jungs waren ruhig und träumten süß. Vielleicht waren sie das einzig Ruhige an mir. Nur mit Mühe riss ich mich zusammen. Ich musste beim Räumen helfen. Vielleicht fühlte es sich ja so an, wenn man sich mütterlich verhielt. Meine eigene Mutter hätte es eine Schwäche genannt. Zuneigung war eine gefährliche Angelegenheit. Die Leute blieben nicht bei einem, ganz gleich, wie sehr man es auch wollte. Leute verursachten Ärger, sie lenkten einen ab, und man konnte ihnen nicht trauen.
Die falschen Leute, dachte ich, an meine Mutter gerichtet. Außerdem war es sinnlos, die Welt zu retten, wenn ich keine Liebe für sie empfand, wenn ich die Menschen gar nicht liebte, die sie bewohnten. Jedenfalls einige hätte ich lieben müssen. Ich war schließlich kein Hippie oder so etwas.
Die Küche war längst nicht so vollgestopft wie der Rest der Wohnung, obwohl sich in der Spüle schmutziges Geschirr stapelte und der Tresen von Krümeln übersät war. Am Tisch saß Mary. Es überraschte mich, sie zu sehen. Statt der Pudel auf ihrem Kartoffelsackkleid zierten jetzt gigantische Gänseblümchen
den Stoff. Der Saum reichte kaum bis zu ihren blutigen Knien, und der übergroße blaue Pullover, der um ihren knorrigen Oberkörper hing, war geflickt und hatte Löcher. Ihr weißes, wirres Haar hätte Einstein neidisch gemacht.
Byron stand neben ihr und goss kochendes Wasser in einen großen Becher, in dem drei Teebeutel und fünf altmodische Zuckerstücke lagen. Marys Hände zitterten, als sie das dicke weiße Porzellan hielt - sie blickte starr auf den Boden.
»Tee hilft ihr, ruhig zu bleiben«, erklärte Byron, als wäre es für ein fünfzehnjähriges Straßenkind vollkommen normal, sich um eine alte, etwas verrückte und außerweltliche Drogensüchtige zu kümmern. Vielleicht war es das ja auch für ihn. Er war schließlich kein gewöhnlicher Junge.
»Das hast du gut gemacht«, sagte ich, als Grant hinter mir auftauchte und sich unbeholfen einen Weg über den schmalen Pfad zwischen den Büchern suchte. Killy war bei ihm. Sie runzelte die Stirn und drückte die Finger an ihre Schläfen. Ihre Miene verfinsterte sich, als sie Mary sah.
»Geht es dir gut?«, fragte Grant Byron.
»Alles klar«, antwortete dieser und sah an ihm vorbei auf Killy. »Ich habe gesehen, wie Mary den Priester angegriffen hat. Nachdem sie verschwunden war, habe ich sie gefunden und sie mit hierhergebracht.«
Ein guter Junge. Ich strich ihm durchs Haar. Mary hob den Blick vom Boden auf ihren Teebecher - und dann auf Grant. Es war, als ginge die Sonne in ihrem Gesicht auf. Sie strahlte, als ihr klar wurde, wer da vor ihr stand; sie glühte förmlich und lächelte breit.
»Grant«, flüsterte sie, stand auf und streckte die Hände nach ihm aus. Doch unmittelbar bevor sie ihn berührte hielt sie inne und ließ ihre Hände stattdessen über dem Medaillon schweben,
das im Licht der Lampen weich und golden schimmerte. Sie starrte es an und bewegte die Lippen. Ihre faltige Haut wurde blasser, und der wilde Ausdruck in ihren Augen erinnerte mich an die Schöpfungen von Mr. Koenig, obwohl sie in jeder Hinsicht das Gegenteil davon war.
Mary hatte das Muster des Medaillons mit Tinte auf ihre Handfläche gezeichnet, aber jetzt war es verblasst, sogar beinahe verschwunden. Sie legte diese Hand auf das Medaillon und erschauerte, zog die Luft zwischen den Zähnen zischend ein. Grant stand wie erstarrt da, als hätte er plötzlich Angst, ihr so nah zu sein. Byron war ebenfalls angespannt, aber seine Aufmerksamkeit richtete sich vollkommen auf die alte Frau. Ich fragte mich kurz, was er wohl erlebt haben mochte, dass er versuchte, sie ruhig zu halten.
»Mary.« Der Name kam wie ein Lied über Grants Lippen. »Mary, kennst du das? Hast du das schon einmal gesehen?«
Killy stieß einen leisen, schmerzerfüllten Laut aus und schloss die Augen. Mary schwankte.
»Mary«, wiederholte Grant.
»Antrea«, flüsterte sie und schloss die Hand um das Medaillon.
Sämtliche Farbe wich aus Grants Gesicht. Ich stützte ihn, als sein schlimmes Bein unter ihm nachgab. Er packte meine Schulter so fest, dass sich die Jungs unter seiner Hand wanden. »Woher kennst du den Namen meiner Mutter?«
»Deine Mutter«, hauchte Mary und blinzelte heftig. »Deine Mutter war so wundervoll.«
Killy schrie auf und presste sich die Hände auf
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