In den Armen der Nacht
Details, auf irgendetwas.
Indes steckte die Nonne schweigend die Hände in die weiten Ärmel ihrer Tracht und senkte den Kopf. Tasya hätte nicht zu sagen vermocht, ob sie betete oder vor sich hin döste.
»Also gut.« Tasya lief zum Altar. Legte den Schlüssel auf die Kanzel und kniete sich auf die Granitplatten.
Wie vorhin in ihrer Vision war der Fugenmörtel ausgebrochen. Die Steine waren lose. Große Platten von Armeslänge, von Steinmetzen zu Quadraten geschliffen und von Generationen gläubiger Christen ausgetreten. Mit ihren Fingern hob sie die erste an.
Igitt, Staub … und Knochen. Bleiche Knochen, abgenagt vom Zahn der Zeit.
Sie hatte die richtige Stelle gefunden.
Sie hob den nächsten Stein heraus, dann noch einen. Brach sich dabei einen Fingernagel ab und unterdrückte einen unschönen Fluch.
Nicht hier. Nicht im Beisein von Schwester Maria Helvig.
Die Knochen waren alt und in ein fadenscheiniges Leichentuch gehüllt, das mit den Jahren ein schmutziges Sepiabraun angenommen hatte. Als der Mann noch gelebt hatte, war er groß und breitschultrig gewesen. Seine Oberschenkelknochen waren lang und kräftig, die Beckenschale breit. Die Fingergelenke lagen auf den Rippen verstreut, an einem steckte noch ein Ring aus gehämmertem Gold.
Tasya richtete sich enttäuscht auf und seufzte. Sie war fest davon ausgegangen, dass sie neben dem Toten die Schatztruhe finden würde.
»Suchen Sie weiter. Machen Sie schnell.« Die Stimme der Nonne drang gespenstisch leise aus dem Gestühl. Dann setzte sie kaum hörbar hinzu: »Es bleibt keine Zeit mehr.«
Tasya drehte sich zu ihr. »Keine Zeit für was?«
Die Nonne antwortete nicht, sondern hielt den Kopf gesenkt.
Die Steinplatte, die Gesicht und Schultern des Königs bedeckte, war mindestens zwölf Zentimeter dick und halb so groß wie Tasya und wog bestimmt eine halbe Tonne. Sie überlegte kurz, ob sie Rurik um Hilfe bitten sollte, hatte aber vorhin schon bemerkt, dass er sich dagegen sträubte, die Kapelle zu betreten.
Folglich würde sie ihn nicht holen und auch keine Hilfe von einem Gott erbitten, an den sie schon vor vielen Jahren den Glauben verloren hatte. Stattdessen machte sie es wie immer und krempelte mental die Ärmel hoch: Selbst ist die Frau.
»Halten Sie sich die Ohren zu, Schwester, es kann ein bisschen laut werden«, warnte sie, bevor sie sich breitbeinig über die Grabplatte stellte und ihre Füße links und rechts auf die Fliesen stemmte, um festen Halt zu finden. Ihre Hände glitten unter den schweren Stein und schafften es, eine Ecke anzuheben. Das war’s fürs Erste. Der Rest rührte sich nicht vom Fleck. Die Muskeln in ihren Armen und ihrem Bauch schmerzten vor Anspannung, aber es glückte ihr, die Platte langsam ein Stück beiseitezuschieben. Tasya hatte sie schon halb entfernt - hatte es fast geschafft, fast -, als sie einen Krampf in den Armen bekam. Sie würde loslassen müssen. Sie musste die Platte fallen lassen. Sie konnte nicht mehr!
Sie spähte auf den Leichnam in der Hoffnung, die Schatztruhe zu entdecken.
Stattdessen grinste sie der nackte Schädel des Königs an, als amüsierte er sich über ihren Kraftakt.
Halb ohnmächtig vor Wut und Schmerz ließ sie den schweren Granitdeckel los.
Er knallte mit einem gewaltigen Krachen auf den Steinboden und zerbarst in zwei Teile.
Sie stand auf wackligen Beinen und starrte auf das schauerliche Grinsegesicht. »Wer zuletzt lacht, lacht am besten«, murmelte sie.
Über seinem gekrönten Haupt schimmerte ein quadratisches Kästchen aus purem Gold.
Die Schatztruhe.
»Sie ist in dem Grab«, rief sie. »Schwester, die Truhe ist tatsächlich hier!«
Sie kniete sich auf die Steine und wischte behutsam den Staub von der Truhe. Ja. Die Arbeit auf dem Deckel
war identisch mit der auf der Truhe in Schottland. Unglaublich, dieses Kleinod war über eine Insel gereist, übers Meer und über einen Kontinent, bis es hier, in einem Königsgrab in einem altehrwürdigen Konvent, sein letztes Versteck fand.
Sie sah sich nach etwas um, womit sie graben konnte, aber der Altar war leer. Und obwohl sie Gott nie verziehen hatte, dass er den Tod ihrer Eltern zugelassen hatte, würde sie nicht einfach hergehen und irgendeinen geweihten Gegenstand schnöde in eine Schaufel umfunktionieren. »Schwester, sind Sie sicher, dass die Ikone da drin ist?«
Schwester Maria Helvig blieb ihr die Antwort schuldig, aber das überraschte Tasya nicht. Die Nonne hatte es mehr mit kryptischen Kommentaren. Warum sollte
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