In den Armen des Eroberers
ich habe beide Eltern bei einem Kutschenunfall verloren, als ich sechzehn war.«
»Beide?« Amelia wirkte schockiert. »Das muß ja schrecklich gewesen sein – noch schlimmer, als einen Bruder zu verlieren.«
Honoria schwieg und senkte ein wenig steif den Kopf. »Es ist immer schrecklich, ein Familienmitglied zu verlieren. Aber auch wenn uns einer von unseren Lieben verläßt, so müssen wir doch weiterleben. Das sind wir ihnen schuldig – ihrem Andenken – und auch uns selbst.«
Diese philosophische Bemerkung verwirrte die beiden. Honoria nahm die Gelegenheit wahr und steuerte sie nach unten zur Hauskapelle.
An der Tür blieben die Zwillinge stehen und musterten nervös die Reihen schwarzgekleideter Verwandter, die alle schwiegen und die Köpfe gesenkt hielten.
Beide Mädchen reagierten, wie Honoria es erhofft hatte: Sie richteten sich gerade auf, holten tief Luft und schritten langsam durch den stillen Raum. Hand in Hand näherten sie sich dem Sarg, der vor dem Altar auf einem erhöhten Podium aufgestellt war.
Tolly war zwar nicht mit Honoria verwandt, aber sie war schließlich zugegen, als er starb. Sie zögerte nur kurz, dann folgte sie Tollys Schwestern.
Die Zwillinge drängten sich aneinander und schlüpften schließlich in einen Betstuhl hinter ihrer weinenden Mutter. Honoria blieb stehen und blickte in ein junges Gesicht, dessen unschuldigem Ausdruck auch der Tod nichts hatte anhaben können. Wie sie gesagt hatte, wirkte Tollys Gesicht heiter und friedlich; von seiner Schußwunde in der Brust war keine Spur zu sehen. Nur die wächserne Blässe verriet, daß er nie wieder aufwachen würde.
Sie war dem Tod zuvor schon begegnet, aber noch nie auf diese Weise. Ihre Toten hatte Gott zu sich geholt; Honoria war nichts anderes übriggeblieben, als sie zu betrauern. Tolly allerdings war von einem Menschen aus dem Leben gerissen worden – und das erforderte eine völlig andere Reaktion. Sie furchte die Stirn.
»Was ist los?« fragte Devil plötzlich ganz leise neben ihr.
Honoria blickte ihm forschend in die Augen. Er wußte es – wie hätte er es nicht wissen sollen? Warum fragte er dann? Eiseskälte breitete sich in ihrem Herzen aus – sie schauderte und wandte den Blick ab.
»Kommt.« Devil nahm ihren Arm, und Honoria ließ sich von ihm zu einem Betstuhl führen. Er setzte sich neben sie; sie spürte seinen Blick auf ihrem Gesicht, wandte sich ihm jedoch nicht zu.
Dann erhob sich Tollys Mutter. Gestützt von ihrem Gatten, trat sie an den Sarg und legte eine weiße Rose darauf. Die Andacht war vorüber. Niemand sprach, als man leise die Kapelle verließ und der Herzogin-Witwe und Tollys Eltern in den Salon folgte. In der Eingangshalle nahm Devil Honoria beiseite und zog sie in den Schatten der Treppe. Als auch die letzten Nachzügler vorüber waren, sagte er leise: »Es tut mir leid – ich hätte nicht auf Eure Anwesenheit bestehen sollen. Ich habe nicht daran gedacht, daß es Euch an Eure Eltern erinnern würde.«
Honoria blickte ihm offen in die Augen. Es war ihm offenbar nicht gegeben, seine Gefühle zu verbergen – die klaren Tiefen waren zu durchsichtig. Im Augenblick wirkte er sehr zerknirscht.
»Das war es nicht. Mich hat nur tief getroffen …« Sie hielt inne und forschte noch einmal in seinen Augen. »Wie ungerecht es ist, daß er sterben mußte.« Spontan fragte sie: »Seid Ihr zufrieden mit dem behördlichen Befund?«
Seine Gesicht verhärtete sich zu einer Kriegsmaske. Er senkte die Lider, um diese verräterischen Augen zu verbergen. »Voll und ganz.« Lässig wies er auf die Tür zum Salon. »Wir sollten uns den anderen anschließen.«
Sein abrupter Themenwechsel war zwar nicht wirklich ein Schlag ins Gesicht, ließ Honoria aber trotzdem stutzen. Im Schutz ihrer üblichen stolzen Haltung gestattete sie ihm, sie in den Salon zu führen, und fluchte innerlich, als aller Augen sich auf sie richteten. Ihr gemeinsames Eintreten, abgesondert von allen anderen, bestärkte die Spekulationen, die Devil und die Herzogin-Witwe anzuheizen gedachten – die Vermutung, daß Honoria Devils Braut wäre. Solche leisen Zeichen waren Nahrung für den ton , das wußte Honoria wohl – gewöhnlich nutzte sie derartige Signale zu ihrem eigenen Vorteil, doch in diesem Fall hatte sie eindeutig ihren Meister gefunden.
Vielmehr ihren Meister und zusätzlich ihre Meisterin – für die Herzogin-Witwe war das Spielchen auch nichts Neues.
Der Salon war gedrängt voll von Familienmitgliedern, Angehörigen
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