In den eisigen Tod
ihre Fortschritte enttäuscht war. Die Chancen, die Terra Nova rechtzeitig zu erreichen, schwanden – sie sollte Ende Februar nach Norden fahren. »Wir neigen zu Trägheit und zu Langsamkeit«, klagte er. »Ich habe heute Abend über die Angelegenheit gesprochen und hoffe auf Besserung.« Sie befanden sich jetzt etwa 55 Kilometer vom Lower-Glacier-Depot entfernt und hatten Lebensmittelvorräte für beinahe drei Tage bei sich, doch am 15. Februar stellte Scott wieder fest, dass der Proviant zur Neige ging. In seiner Verzweiflung hatte er sowohl ihre Rationen als auch ihre Ruhezeit reduziert, damit sie das Depot erreichen konnten, ehe die Rationen ausgingen. Während sie ihren schweren Schlitten zogen, wanderten seine Gedanken vielleicht nach Hause und zu Kathleen als einer Quelle von Kraft und Trost. Diese speiste am 15. Februar mit Premierminister Asquith zu Mittag, fraglos in der Hoffnung, ihn mit ihrem Charme spendabel zu machen.
Der nächste Tag kündigte eine Tragödie an. In Scotts Tagebuch ist unter dem 16. Februar festgehalten: »Eine ziemlich aufreibende Lage. Evans ist unserer Meinung nach dem geistigen Zusammenbruch nahe. Er ist ganz anders als der selbstsichere Mann, der er war. Heute morgen und heute nachmittag blieb er unter irgendwelchen banalen Vorwänden stehen.« Sollte dies wenig mitfühlend klingen, so muss man bedenken, dass Scott unter großer geistiger und körperlicher Anspannung stand. Wahrscheinlich fühlte er sich auch für den schlechten Zustand seines Gefährten verantwortlich und litt unter Schuldgefühlen. Oates’ Urteil wirkt ähnlich herzlos: »Mit Evans ist etwas Ungewöhnliches los; er hat seinen Mut verloren und benimmt sich wie ein altes Weib oder noch schlimmer«, und doch war Oates der Offizier, der bei den Männern vom Mannschaftsdeck am beliebtesten war. Wilsons Urteil lautete: »Evans’ Zusammenbruch hat viel mit der Tatsache zu tun, dass er niemals in seinem Leben krank gewesen, jetzt aber wegen seiner erfrorenen Hände hilflos war.«
Am folgenden Tag machten sie weiter in der Hoffnung, es bis zum nächsten Depot zu schaffen, aber »mit dem kranken Mann war es eine aufreibende Sache«. 7 Der Ausbruch der Krise stand bevor, und es war, Scott zufolge, »ein wirklich grauenhafter Tag«. Evans hatte gut geschlafen, sich auf den Marsch vorbereitet und mutig, wie immer, erklärt, dass er fit sei und es ihm gut gehe. Er nahm seinen Platz in den Zuggurten ein, doch nach einer halben Stunde musste er abgeschirrt werden, weil sich seine Skier gelockert hatten. Die anderen kämpften sich mit dem ächzenden Schlitten über einen zähen, sirupartigen Boden voran. Evans holte langsam wieder auf und nahm noch einmal seinen Platz im Geschirr ein, doch nach einer weiteren halben Stunde stieg er wieder aus und bat Bowers, ihm ein Stück Bindfaden zu borgen. Scott sagte zu Evans, er solle wieder nachkommen, wenn er könne, und der Matrose antwortete ihm scheinbar frohgemut.
Wieder zogen die anderen weiter, besorgt, ob sie das Depot erreichen würden, und stark schwitzend. Um die Mittagszeit saßen sie da, warteten und rechneten damit, dass die einsam trottende Gestalt von Evans in Sicht kam. Als er nicht auftauchte, begannen sie, ihn zu suchen, und stellten fest, dass er noch ziemlich weit entfernt war. Es war offensichtlich, dass irgend etwas nicht stimmte. Scott war der erste, der bei Evans anlangte, und war über den Anblick entsetzt: »Er kniete da, mit unordentlichen Kleidern, bloßen und erfrorenen Händen und einem wirren Blick in den Augen.« Auf die Frage, was geschehen war, erwiderte er, dass er es nicht wisse, aber glaube, das Bewusstsein verloren zu haben. Er konnte nicht mehr gehen und zeigte Anzeichen eines völligen Zusammenbruchs. Oates blieb bei ihm, während die anderen davoneilten, um den Schlitten zu holen. Als es ihnen gelungen war, Evans ins Zelt zu bringen, lag er bereits im Koma, und er starb noch in derselben Nacht friedlich, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Er hatte dreieinhalb Monate zuvor Cape Evans verlassen und war über 2220 Kilometer marschiert. In seinem letzten Brief an seine Frau hatte er geschrieben: »Auf dieser großen Eisplattform,
3000 Meter über Meereshöhe, denke ich immer an Dich.« 8
Seine entsetzten Kameraden diskutierten über die Ursache seines Todes. Sie kamen zu dem Schluss, dass seine Kräfte schon auf der Reise zum Pol nachgelassen hatten und die Verschlechterung seines Zustands durch die Erfrierungen an seinen Fingern,
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