In den eisigen Tod
erreichen. Sie schrieb später, dass Scott ihr nachgeeilt sei, »aber er sah mich nur vor sich gehend, einen ziemlich großen Koffer schleppend, und seine anerzogenen Prinzipien, denen zufolge ›englische Gentlemen keine großen Gegenstände auf der Straße tragen‹, obsiegten. Er holte mich nicht ein.« Mit diesen wenigen Worten fing sie etwas von Scotts Wesen ein – seine Schüchternheit, seine von seiner Herkunft aus der Mittelschicht herrührenden Hemmungen und seine Ängste in bezug auf das Urteil anderer Leute.
Erst zehn Monate später kreuzten sich ihre Wege wieder. Im Oktober 1907 waren beide zum Tee eingeladen. Kathleen verwandte ungewöhnliche Sorgfalt auf ihre Garderobe, stoppelte zwei Hüte zu einem zusammen und schnitt ein großes Taschentuch auseinander, um sich daraus einen neuen Kragen und Manschetten zu nähen. Sie war aufgeregt und neugierig, war sich aber auch einer gewissen Unvereinbarkeit bewusst und schrieb: »Leute wie er sollten nicht zu Teegesellschaften gehen.« Sie hinterließ eine lebendige Schilderung ihrer Begegnung.
»Plötzlich, und ich wusste nicht wie, saß ich auf einem harten, unbequemen Stuhl mit einer kippeligen Tasse in der Hand und wurde auf belanglose Weise von diesem sehr gut gekleideten, ziemlich hässlichen und gefeierten Forschungsreisenden gehänselt. Er stand neben mir. Er war von mittlerer Größe, mit breiten Schultern, sehr schmaler Taille und stumpfem Haar, das sich zu lichten begann, aber mit einem seltenen Lächeln und Augen von ungewöhnlich dunklem Blau, fast Violett. Ich hatte diese Augen schon zehn Monate früher bemerkt. Ich bemerkte sie jetzt wieder, allerdings bei elektrischem Licht. Solche Augen hatte ich zuvor noch nie gesehen. Er schlug vor, mich nach Hause zu bringen.«
Kathleen hatte erwartet, dass Scott das Übliche tun und eine Droschke rufen würde, aber statt dessen gingen sie zu Fuß zu ihrer kleinen Wohnung am Cheyne Walk, und zwar »lachend, redend, einander schubsend«. Diese Alberei erscheint für einen Marineoffizier im reiferen Alter ein unwahrscheinliches Benehmen in der Öffentlichkeit, doch Kathleens überschäumende Lebenslust wirkte befreiend und erregend auf Scott. Von jenem Tag an schrieb oder telefonierte er ständig, und seine Briefe waren vertraulich und zärtlich und im hochtrabenden Ton seiner Zeit gehalten: »Unkontrollierbare Schritte trugen mich am Ufer entlang, nur damit ich dort kein Licht sah – doch ich wusste, dass Du da warst, mein Herz – ich sah das offene Fenster und, im Geiste, drinnen einen süßen Kopf mit zerzausten Haaren auf dem Kissen.« 1 Schon wenige Tage nach dieser fröhlichen und ausgelassenen Promenade durch Chelsea dachte er an Heirat.
Dies war keineswegs Scotts erste romantische Anwandlung. Er hatte sich immer zu hübschen, lebhaften und intelligenten Frauen hingezogen gefühlt, aber Mangel an Zeit, Geld und Gelegenheit hatten sich als mächtige Hindernisse erwiesen. Seine Schwester glaubte: »Das Seemannsleben und seine romantische Natur führten dazu, dass er Frauen idealisierte. Scott fasste rasch Sympathien für andere, hielt sie aber nicht lange aufrecht.« 2 Bernacchi zufolge bewunderte er vor allem Frauen, die »eine Arbeit mit Erfolg abschließen« konnten. 3
Er hatte sich auch zu der Schauspielerin Pauline Chase hingezogen gefühlt, einem Star, der in London gefeiert wurde wegen ihrer jungenhaften Darstellung des Peter Pan – ein weiterer Beweis dafür, dass er Frauen mochte, die nicht aus seinem eigenen, ziemlich engen Milieu stammten. Barrie spielte den Vermittler, und wenn er konnte, führte Scott sie nach der Vorstellung zum Abendessen aus und verbrachte mit ihr die Wochenenden auf dem Land. Auf den Fotografien sieht man ein zierliches Mädchen mit einem reizenden, regelmäßig geschnittenen Gesicht – ein ganz anderer Typ als Kathleen Bruce mit ihrem markanten, auffallend mediterranen Aussehen.
Kathleen begründete dieses mit ihrer ungewöhnlichen Abstammung, denn ihre Mutter war die Enkelin eines griechischen Fürsten. Kathleen, die fast zehn Jahre jünger war als Scott, wurde im März 1878 im Pfarrhaus ihres Vaters als jüngstes einer Schar von elf Kindern geboren. Sie verwaisten früh – Kanonikus Bruce starb 1886. Seine Frau war bereits sechs Jahre früher gestorben. Kathleen verbrachte ihre Kindheit im Haushalt ihres kinderlosen Großonkels William Forbes Skene, eines exzentrischen, wenn auch liebevollen alten Herrn, der Historiografer Royal of Scotland war. Doch er war
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