In den eisigen Tod
von etwa 130 Kilometern Länge über tief zerklüftetes Eis und über Spalten nehmen müssen. Während des Winters hatte er Wilson zweimal auf einen Spaziergang mitgenommen, um zu versuchen, ihm diesen Plan auszureden, aber ohne Erfolg. Er brachte es aber auch nicht über das Herz, Wilson zu enttäuschen, und kam zu dem Schluss, dass dabei gewisse Erfahrungen gewonnen würden, die für die Eroberung des Pols von Nutzen sein konnten. Man würde mehr über die Verhältnisse auf dem Ross-Schelfeis erfahren, und so bat er Wilson, mit der Kost zu experimentieren und unterschiedliche Mengen an Fetten, Kohlehydraten und Proteinen auszuprobieren. Er erlaubte Wilson, Cherry-Garrard und Bowers mitzunehmen, die Wilson in einem Brief an Ory als »die beiden besten Schlittenfahrer der ganzen Expedition« bezeichnete. 3
Und so begann »die seltsamste Vogelnist-Expedition«. 4 Ponting machte eine Blitzlichtaufnahme, und Scott verabschiedete sie mit einer Mischung aus Hoffnung und Vorahnung. Er schrieb in sein Tagebuch: »Diese Winterreise ist ein neues und kühnes Unternehmen, aber die richtigen Männer sind losgezogen, um den Versuch zu wagen. Alle guten Wünsche begleiten sie!« Cherry-Garrard schildert in seinem Buch The Worst Journey in the World ihre Erregung und Besorgnis: »Drei Männer, von denen zumindest einer ein wenig Angst hat, stehen keuchend und schwitzend am McMurdo Sound.« Ihre beiden 2,75 Meter langen Schlitten waren hintereinandergespannt und trugen zusammen eine Last von etwa sechseinhalb Zentnern – Lebensmittel und Ausrüstung. Der Boden, über den sie gehen mussten, war für Hunde wie für Ponys gleichermaßen ungeeignet, und deshalb mussten sie die Schlitten selber ziehen. Den Gedanken, mit Skiern zu fahren, hatten sie aufgegeben, weil sie sich für zu unerfahren hielten, um sie in der Dunkelheit zu benutzen. Wilson warnte Ory, dass der Treck »ein richtig tolles Ding« werden würde, aber dies sollte sich als eine Art Untertreibung erweisen. 5
Die drei Männer, die sich von einer Kost, bestehend aus Pemmikan, Zwieback, Butter und Tee, ernährten, versuchten, sich auf das Zelten in der Dunkelheit einzustellen, und merkten, dass alles viel länger dauerte. In der Nähe des Ross-Schelfeises fiel die Temperatur auf minus 44 Grad und dann auf minus 49 Grad. Ein unter bösen Erfrierungen leidender Cherry-Garrard zeichnete ein grauenhaftes Bild von den 19 Tagen, die sie brauchten, um nach Cape Crozier zu gelangen: »Ich zum Beispiel hatte einen solchen Grad an Leiden erreicht, dass es mir wirklich nichts ausgemacht hätte, wenn ich nur ohne viel Schmerzen hätte sterben können ... Die Dunkelheit war schuld. Ich glaube nicht, dass Temperaturen um minus 56 Grad bei Tageslicht schlimm wären – zumindest relativ gesprochen –, wenn man nur sehen könnte, wohin man tritt.« Ihre Kleider froren so fest, dass jeweils die anderen beiden sie in die erforderliche Form biegen mussten. Eines Morgens ging Cherry-Garrard vor das Zelt, hob den Kopf, um sich umzusehen, »und stellte fest, dass ich ihn nicht wieder zurückbewegen konnte«. Er musste vier Stunden lang mit einem schiefwinklig verdrehten Kopf weitergehen. Der einzige Trost war der magische Schein des Polarlichts, der manchmal über ihren Köpfen tanzte, auch wenn Cherry-Garrard ihn wegen seiner verminderten Sehkraft nicht richtig zu schätzen wusste. Es war so kalt, dass er seine Brille nicht aufsetzen konnte.
Die Temperatur fiel weiter, und die niedrigste, die auf der Reise aufgezeichnet wurde, lag bei unvorstellbaren minus 60 Grad. Unweigerlich stellte sich die Frage, ob sie weitergehen sollten. »Ich glaube, es geht uns gut, solange unser Appetit gut ist«, sagte Bill [Wilson]. Immer geduldig, selbstbeherrscht und gelassen, war er, glaube ich, der einzige Mensch auf Erden, der diese Reise leiten konnte.« Er behielt auch den Zustand ihrer Füße sehr genau im Auge, weil er erkannte: »Wir konnten vor allem nicht das Risiko eingehen, dass irgend jemand verkrüppelte Füße bekommt.« Bowers blieb unentwegt frohen Mutes, und irgendwie kämpfte sich die kleine Gruppe voran. Da sie es jetzt zu schwierig fanden, beide Schlitten zu ziehen, mussten sie in Staffeln fahren und kamen deshalb pro Tag nur dreieinhalb bis fünfeinhalb Kilometer voran, mussten aber ein und dieselbe Strecke immer dreimal zurücklegen. Manchmal bekam Cherry-Garrard das heulende Elend. Sie bewegten sich jetzt zwischen tiefen Spalten fort, und nur ein vorbeihuschendes, schwaches Mondlicht
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