In den Fängen der Macht
Süden oder Westen verwundet worden oder gehörten zu der großen Gruppe von Soldaten, die an Fieber, Typhus oder der Ruhr litten, Krankheiten, die solche Gruppen von Menschen immer plagten, wenn es keinerlei hygienische Vorkehrungen gab. Hier war es noch schlimmer, als es in kühleren Klimazonen oder bei Männern mit militärischer Ausbildung gewesen wäre. Dies waren unerfahrene Rekruten ohne das geringste Wissen, wie man Vorkehrungen gegen Krankheit, Läuse oder Vergiftung durch verdorbene oder verseuchte Lebensmittel treffen konnte. Jeder Mann war selbst für die Zubereitung seiner Verpflegung verantwortlich, die ihm zugeteilt wurde. Die meisten von ihnen hatten keine Ahnung, wie sie zu rationieren war, damit sie ausreichte, und sie hatten wenig Vorstellung davon, wie man sie zubereitete.
Hester versuchte, möglichst wenig zur Kenntnis zu nehmen. So viel unnötiges Leiden, dessen Gestank sie zu erdrücken drohte, während sie in der stechenden Hitze über den Weg holperten und fast an dem Staub erstickten, den die Wagen vor ihnen aufwirbelten. Sie hörte das Stöhnen ringsum, und in ihr erwachte der Zorn über die Qualen, die sie sich so lebhaft ausmalen konnte, als ob Skutari und das dortige Sterben erst gestern gewesen wäre. Innerlich war sie völlig verkrampft, ihre Muskeln waren angespannt, sodass ihr ganzer Körper schmerzte, während ihr Geist versuchte, sich das Leiden nicht vorzustellen, und doch versagte.
Schweigend saß Merrit neben ihr. Welcher Art ihre Gedanken auch sein mochten, sie sprach sie nicht aus. Ihr Gesicht war weiß, und sie starrte auf den Weg, obwohl Hester den Wagen lenkte. Vielleicht dachte sie an das Schlachtfeld, das vor ihnen lag, fragte sich ängstlich, was ihnen bevorstand, ob sie der Aufgabe auch nur im Entferntesten gewachsen sein würden, ob ihre eigene Tapferkeit groß genug wäre, ihre Nerven ruhig bleiben würden und ihr Wissen angemessen sein mochte. Oder erinnerte sie sich an die wütende Trennung von ihrem Vater, an die Dinge, die sie zu ihm gesagt hatte und die nun nicht mehr zurückgenommen werden konnten? Es war zu spät, um zu sagen, dass es ihr Leid tat, dass sie es nicht so gemeint hatte, oder gar, dass sie ihn trotz ihrer Differenzen liebte, dass ihre Liebe weit größer, lebenslang und Teil ihrer selbst war? Oder dachte sie vielleicht an ihre Mutter und den Kummer, der sie verzehren musste?
Vielleicht fragte sie sich auch, was in jenem Lagerhaus geschehen war und was Lyman Breelands Anteil daran war. Hester konnte nicht glauben, dass sie etwas wusste.
Die Mittagshitze war fast unerträglich. Selbst im Schatten herrschten etwa fünfunddreißig Grad. Wie hoch die Temperatur in der grellen Sonne auf der staubigen Straße sein mochte, konnte Hester nicht einmal schätzen. Sie fuhren den ganzen Tag, hielten nur an, wenn es notwendig war, das Pferd im Schatten unter den Bäumen neben dem Weg ruhen zu lassen und es zu tränken. Sie mussten sorgfältig darüber wachen, dass weder das Pferd noch sie selbst zu viel Wasser zu sich nahmen. Sie sprachen wenig, höchstens über den Verkehr, der sich mit demselben Ziel, das sie hatten, die Straße entlangmühte, oder wie lange die Fahrt noch dauern würde und wo sie sich schließlich niederlassen würden.
Einmal sah Merrit so aus, als wollte sie das Thema Breeland ansprechen. Sie stand auf einem verdorrten Grasfleck und verjagte die winzigen, schwarzen Fliegen, die sie umschwirrten. Aber in letzter Minute änderte sie ihr Vorhaben und sprach stattdessen vom Ausgang der Schlacht.
»Ich nehme an, dass die Union gewinnen wird…« Es klang nicht direkt wie eine Frage. »Was geschieht mit den Verwundeten der Seite, die verliert?«
Es hatte keinen Sinn, sich in Beschönigungen zu ergehen. Binnen Stunden würde die Wahrheit ans Licht kommen. Darauf vorbereitet zu sein, würde wenigstens den lähmenden Schock mildern, wenngleich nicht das Grauen.
»Das hängt davon ab, wie schnell sich das Kampfgeschehen fortbewegt«, erwiderte Hester. »Ist die Kavallerie im Einsatz, dann verlagert sich der Kampf schnell, und die Verletzten werden zurückgelassen. Sie helfen sich gegenseitig, so gut es eben geht. Ist es die Infanterie, dann bewegt sich der Kampf nur so schnell, wie ein Mensch laufen kann. Jeder tut sein Möglichstes, um sich zu retten, andere zu tragen, Wagen, Karren oder sonst etwas zu finden, um diejenigen, die nicht laufen können, zu transportieren.«
Merrit schluckte. Weitere Wagen fuhren an ihnen vorbei und wirbelten
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