In den Fängen der Macht
hinter sich Staub auf. »Und die Toten?«, fragte sie.
Einen Moment lang flutete die Erinnerung mit solcher Macht über Hester hinweg, dass sich ihr Blick verschleierte und eine Welle des Kummers und der Übelkeit über ihr zusammenschlug. Sie war wieder auf der Krim, stolperte über den Talboden, der nach dem Kampf der leichten Brigade mit den Körpern der Toten und Sterbenden übersät war, die Erde zertrampelt und blutgetränkt, der Geruch von Blut in der Luft, die Geräusche der Todesqualen, die sie umgaben. Sie spürte, wie die Tränen über ihre Wangen liefen, spürte die aufwallende Hysterie und Verzweiflung.
»Mrs. Monk!« Merrits Stimme holte sie zurück in die Gegenwart nach Virginia und in den Kampf, der ihnen bevorstand.
»Ja… es tut mir Leid.«
»Was geschieht mit den Toten?« Merrits Stimme bebte, als ob sie im Herzen die Antwort bereits wusste.
»Bisweilen werden sie begraben«, sagte Hester heiser.
»Wenn möglich, macht man das. Aber die Lebenden gehen immer vor.«
Merrit wandte sich ab und ging, um das Pferd zu holen. Es gab keine weiteren Fragen mehr, auf die sie eine Antwort gewünscht hätte, abgesehen von den einfachen, praktischen Fragen, zum Beispiel, wie man ein Pferd anschirrte.
In der Abenddämmerung erreichten sie die kleine Stadt Centreville. Sie bestand lediglich aus einer kleinen, aus Steinen gebauten Kirche, einem Hotel und einigen wenigen Häusern und war etwa sechs oder sieben Meilen vom Bull Run Creek und dem dahinter liegenden Henry Hill entfernt.
Hester war völlig ausgelaugt und sich nur zu deutlich bewusst, wie schmutzig sie war. Sie wusste, Merrit ging es ebenso, nur dass diese weit weniger daran gewöhnt war. Doch das Mädchen wurde von ihrem Enthusiasmus für die Sache der Union angespornt, und wenn sie auch nur einen Augenblick an Lyman Breeland dachte, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie begrüßte die anderen Frauen, die gekommen waren, um ihren Anteil an der Arbeit zu leisten und ebenfalls ihre Hilfe anzubieten, oder die wenigen Männer, die von der Armee abkommandiert worden waren, um ärztliche Pflichten zu übernehmen.
Sie hatten bereits die Kirche und einige andere Gebäude in Lazarette verwandelt und die ersten Opfer von früheren, kurzen Gefechten behandelt. Soeben wurden die letzten transportfähigen Männer auf Ambulanzkarren geladen, die sie zur etwa sieben Meilen entfernten Fairfox Station bringen sollten, von wo sie dann nach Alexandria transportiert wurden.
Eine hoch gewachsene schlanke Frau mit dunklem Haar schien das Kommando übernommen zu haben. Es entstand eine angespannte Situation, in der sie und Hester sich gegenüberstanden, als sie unterschiedliche Anordnungen bezüglich der Lagerung der Vorräte gegeben hatten.
»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«, fragte die Frau brüsk.
»Ich bin Hester Monk. Ich war mit Florence Nightingale als Krankenschwester auf der Krim. Ich dachte, ich könnte mich hier nützlich…«
Der Ärger im Gesicht der Frau schmolz dahin. »Ich danke Ihnen«, sagte sie schlicht. »General MacDowells Männer haben den ganzen Tag das Schlachtfeld ausgekundschaftet. Ich glaube, sie werden im Morgengrauen angreifen. Sie können noch nicht alle hier sein, aber bis zum Morgen werden sie es wohl sein, oder wenigstens bald danach.«
»Sie meinen, wenn sie beim ersten Tageslicht angreifen wollen«, sagte Hester ruhig. »Wir sollten uns ein wenig Ruhe gönnen, damit wir dann Kraft haben, zu tun, was nötig sein wird.«
»Glauben Sie…?« Die Frau hielt inne. Einen Augenblick lang machte sich in ihren Zügen die blanke Angst breit, als sie begriff, dass der Krieg nur noch Stunden entfernt war. Dann gewann ihr Mut wieder die Oberhand, und die Entschlossenheit kehrte zurück. Als sie fortfuhr, bebte ihre Stimme kaum noch. »Wir können nicht ruhen, bis wir sicher sind, alles getan zu haben, was in unserer Macht steht. Unsere Männer werden die ganze Nacht durchmarschieren. Wie können sie Vertrauen in uns haben, wenn sie uns schlafend vorfinden?«
»Postieren Sie eine Wache«, erwiderte Hester einfach.
»Idealismus und Moral haben ihren Platz, aber der gesunde Menschenverstand wird uns weiterhelfen. Morgen werden wir unsere ganze Kraft brauchen, glauben Sie mir. Wir werden noch arbeiten, wenn die Schlacht längst verloren oder gewonnen ist. Für uns ist das erst der Anfang. Verglichen mit den Nachwirkungen ist selbst die längste Schlacht kurz.«
Die Frau zögerte.
Merrit betrat den Raum, ihr Gesicht war blass, und
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